Das Matrazenhaus
Schule gewusst. Den Begriff schwarze Glocke als Bezeichnung des Täters habe Britta Kern aufgebracht, verbal und in Form eines Wachsmalkreidenbildes. Die anderen beiden hätten den Namen mehr oder minder deutlich bestätigt. Was mehr oder minder heiße, fragte Lipp und Bitterle sagte: »Sie sagen nichts.« Der Psychiater, mit dem gemeinsam man die Befragung der Kinder durchgeführt habe, sage, es handle sich nicht um eine posttraumatische Reaktion, auch nicht um einen selektiven Mutismus, sondern um Auskunftsverweigerung infolge einer ganz konkreten Befürchtung. »Wenn ich etwas sage, passiert mir das Gleiche«, sagte sie. »Welches Gleiche?«, fragte Lipp. »Super Frage«, sagte Mauritz.
Kovacs ertappte sich dabei, wie er während Eleonore Bitterles Vortrag die beiden Techniken des Nussschneckenessens studierte. Sabine Wieck und er selbst rollten ab, das heißt, aßen die Schnecke von ihrem äußeren Ende zur Mitte hin auf. Die anderen bissen hinein, Mauritz nur wenige Male. Sabine Wieck stieß ihn in die Seite: »Hallo, Herr Chef, wohin schweifen deine Gedanken?« Kovacs blickte in die Runde. Vom Rand zur Mitte, das habe er gerade gedacht, sagte er. »Super Symbol«, sagte Mauritz.
Wieck und Bitterle waren dabei, die Ergebnisse ihrer beiden Termine mit den Jugendamtssozialarbeiterinnen zu referieren, die überraschend hohe Überlappung ihrer Daten, die Unterschiede zwischen impulsiven Vätern und überforderten Müttern, die Gründe, warum manche Übergriffe gegen Kinder bewusst nicht angezeigt wurden, und die Tatsache, dass man einen echten Psychopathen am ehesten daran erkannte, dass man nach einem Kontakt mit ihm das Bedürfnis hatte, sich die Hände zu waschen. In diesem Moment trat Christine Strobl mit einer Telefonnotiz in den Raum. »Erstens: George hat angerufen. Er ist völlig von der Rolle, schwafelt von etwas Großem und sagt, wir sollen uns möglichst nicht rühren. Er wird das Kommando geben. Und zweitens: Ein Vater aus Sankt Christoph, Peter Ludwig, Peter der Vorname, achtjährige Tochter, Julia, ist gestern geschlagen worden, kann heute nicht zur Schule gehen, sagt, es war die schwarze Glocke.« Mauritz bekam einen Hustenanfall. Lipp knallte ihm die flache Hand zwischen die Schultern. »Ja, ja, die Sache geht weiter«, sagte er. Aber deswegen ersticke er nicht, antwortete Mauritz.
»Sondern?«
Demski gehe ihm fest auf die Nerven, sagte Mauritz, zuerst veranlasse er ihn beinahe, auf ein Baugerüst zu klettern, dann erteile er Stillhaltebefehle aus Berlin. Er griff zu einer zweiten Nussschnecke. Drei Bisse, dachte Kovacs, maximal vier. »Ich rufe ihn an«, sagte er, »und bezüglich des Baugerüstes sei du bitte ganz still.« Kovacs erhob sich. »Was tust du?«, fragte Sabine Wieck. »Ich fahre nach Sankt Christoph«, sagte Kovacs.
»Allein?«
»Nein, mit dir.«
Florian Lipp hob protestierend den Arm. Halt, da sei noch etwas mit einem Fisch gewesen, sagte er. »Mit einem siamesischen Ringelwels«, sagte Mauritz und wischte sich über den Mundwinkel.
»Und?«
Siamesische Ringelwelse seien vor allem davon bedroht, im Klo runtergespült zu werden, habe Sen Wu gesagt.
Er müsse wegen eines neuen Dienstwagens mit Eyltz reden, sagte Kovacs, während sie auf der Grazer Straße nach Süden fuhren, der Vectra sei wirklich unzumutbar und den Puch G beanspruche Eyltz ja inzwischen exklusiv für sich. Sabine Wieck zuckte mit den Schultern. »Hauptsache, er fährt«, sagte sie. Zum Portal des Kammwandtunnels hinauf stand eine Autokolonne. Reinigungsarbeiten, zwanzig Minuten Wartezeit. Kovacs schaltete das Blaulicht ein und Sabine Wieck hielt dem Typen, der mit der Kelle an der Fahrbahnabsperrung stand, ihren Ausweis hin. »Alles ist dringend«, sagte Kovacs, als sie ihn ein wenig seltsam ansah.
Die Serpentinen nach Sankt Christoph hinunter lagen in der Sonne. Kovacs mochte diesen Teil der Strecke, die Felsen neben der Straße, den Blick auf die Dächer und den See und das Quietschen der Reifen, wenn er aus der letzten Kurve herausbeschleunigte. Der Parkplatz an der Ortseinfahrt war etwa zur Hälfte belegt. Zu Ostern kamen die Touristen. Er fragte Sabine Wieck, ob sie mit sechzehn irgendeiner Gruppe angehört habe, Hooligans oder so. Sie lachte. Sie sei eine Zeitlang zu den Pfadfindern gegangen, sagte sie, aber dort sei es ihr bald zu eng geworden. »Was hättest du dir mit sechzehn gewünscht?«, fragte er. »Einen Prinzen und ein Pferd«, sagte sie. Nein, er meine zu Weihnachten oder zum
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