Das Mauerblümchen erringen (German Edition)
Tanzparkett wagte.
Lucy konnte sich einfach nicht vorstellen, einen Mann zu heiraten, der ihr nur bis ans Kinn reichte, und dann ein Leben lang mit ansehen zu müssen, wie Ravensthorpe eine andere Frau anlächelte. Nicht, dass sie es je gesehen hätte.
Sie holte tief Luft, richtete ihre Frisur und klappte ihren Fächer auf. Auch sie hatte etwas von einer Piratin an sich — zumindest redete sie sich das ein, groß genug war sie ja. Wenn ihr nichts Besseres einfiel, würde sie sich auf Ravensthorpe stürzen und ihn zu Boden schlagen, wenn Olivia und Mrs. Lytton zufällig in der Nähe waren.
Diese Vorstellung war so haarsträubend, dass sie Lucy schon wieder gefiel.
5
Cyrus durchsuchte den gesamten Ballsaal nach seiner Verlobten (war sie es überhaupt noch? Er war sich dessen nicht mehr so sicher), als er eine unwillkommene Stimme vernahm.
„Na, wenn das nicht unser junger Anwalt höchstpersönlich ist!“
„Euer Gnaden“, begrüßte Cyrus den Herzog von Pole, wie immer um allergrößte Höflichkeit dem Mann gegenüber bemüht, den er am meisten verabscheute — sein Cousin.
Sie besaßen eine entfernte Ähnlichkeit: Sowohl Pole als auch Cyrus waren von kräftiger Statur — obwohl Pole seit seinem siebzehnten Geburtstag anscheinend nicht mehr gewachsen war —, und besaßen die aristokratische Nase, die auf den ersten Herzog ihrer langen Ahnenreihe zurückging, der im Mittelalter gelebt hatte. Doch hier endeten die Ähnlichkeiten, fand zumindest Cyrus. Pole war ein aufbrausender und tollkühner Spieler, ein Mann von solcher Ungeduld, dass er alles, selbst den Familienbesitz, an das Glücksspiel verloren hatte.
Der Herzog dachte nicht einmal daran, Cyrus´ Gruß zu erwidern. Und wie immer kümmerte es ihn nicht, ob seine empörende Unhöflichkeit von der Umgebung bemerkt wurde. Er wähnte sich aufgrund seines Titels über jeden Tadel erhaben und hatte damit vermutlich sogar recht. Einen Herzog wollte sich niemand zum Feind machen.
„Stellen Sie sich meine Überraschung vor“, näselte er arrogant. „In ungefähr einer Stunde werde ich das Vergnügen haben, mit dem Schiefen Turm von Pisa zu tanzen. Doch wie ich hörte, sind ihre Säulen über Nacht vergoldet worden, also wird meine Mühe nicht völlig vergebens sein.“
Cyrus spürte, wie er die Fäuste ballte. Doch er lehnte jede Form körperlicher Gewalt ab — davon hatte er als Schüler zu viel erlebt. Also zwang er sich, die Hände zu entspannen. „Ich fürchte, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst, Cousin .“
Poles Hals lief ob der formlosen Anrede puterrot an. Er konnte es nicht ausstehen, als Verwandter tituliert zu werden. Er lachte abgehackt. „Ich rede von Miss Lucy Towerton. Die Frau, die verzweifelt genug war, dir ihre Hand zum Ehebund zu reichen. Nur ist sie jetzt nicht mehr so verzweifelt. Du wirst wohl eine andere finden müssen, die dein Geld gegen deine Abstammung aufrechnet. Vielmehr gegen das völlige Fehlen derselben.“
Um sie herum breitete sich Schweigen aus, denn alles wartete darauf, dass Ravensthorpe die Beherrschung verlieren und seinen Cousin niederschlagen würde. Doch Cyrus hatte schon vor langer Zeit beschlossen, dass er auf Poles Köder nicht anbeißen würde. Niemals.
„Wenn Euer Gnaden mich entschuldigen wollen“, sagte er völlig gelassen. „Sie sind gewiss für den nächsten Tanz eingetragen. Lassen Sie sich nicht aufhalten.“
Pole schnaubte verächtlich. „Der >Turm< hat wirklich Glück mit der Erbschaft. Wenn sie schon ihren guten Namen aufgibt, sollte sie wenigstens einen anständigen Mann fürs Bett bekommen. Nun hat sie die Chance, einen Mann zu heiraten, der kein kalter Fisch ist.“
Einen Augenblick lang geriet Cyrus in arge Versuchung, seinem Vorsatz untreu zu werden. Jeder Zoll seines Körpers sehnte sich danach, seinem Cousin einen Kinnhaken zu verpassen.
„Schätze, ich kann den >Turm< nun dazu veranlassen, sich in meine Richtung zu neigen“, fügte Pole höhnisch und für alle Zuhörer vernehmlich hinzu.
Cyrus traf die blitzschnelle Wahl
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