Das Mauerblümchen erringen (German Edition)
Brindle warf ihrer Schwester ein wissendes Lächeln zu.
„Lucy würde sich niemals in einen Mann verlieben, der so weit unter ihr steht.“ Lady Towerton klappte mit einem Knall ihren Fächer zu. „Niemals!“
2
Man konnte Lady Towerton schwerlich zum Vorwurf machen, dass sie über ihre Tochter nicht Bescheid wusste. Die meisten Mütter haben keine Ahnung von ihren Töchtern, die allzu leicht Opfer einer würdelosen, verwirrenden und überwältigenden Verliebtheit werden.
„Sie hat mir befohlen, meine Verlobung noch heute Abend zu lösen“, berichtete Lady Lucy ihrer Freundin Miss Olivia Mayfield Lytton. Da die beiden einander längere Zeit nicht gesehen hatten und ungestört miteinander reden wollten, hatten sie sich hinter den Topfpalmen versteckt. Lady Summers hegte eine Schwäche für alles Ägyptische, und daher war ihr Ballsaal von Palmen gesäumt, die wie eine Phalanx ehrwürdiger Herzoginnenwitwen mit Federn aussahen. „Natürlich hat sie gar nicht erst gefragt, was ich davon halte“, fügte Lucy hinzu.
„Weil deine Tante dir etwas hinterlassen hat?“, vermutete Olivia.
„Mutter glaubt, jetzt könnte ich mir einen Titelträger angeln — was einfach absurd ist, nur kann ich es ihr nicht verständlich machen. Schau mich doch an!“ Und Lucy fuhr mit bezeichnender Geste an ihrer Figur entlang. „Und wenn die Mitgift noch so hoch ist — meine Größe kann sie nicht wettmachen.“
„Du bist doch wunderschön“, sagte Olivia aus tiefster Überzeugung. „Und außerdem neuerdings eine reiche Erbin. Deine Mutter hat ganz recht.“
Lucy verdrehte die Augen. „Das kann doch nicht dein Ernst sein! Es gibt einen guten Grund, warum niemand mit mir tanzen will. Siehst du dieses Kleid, Olivia?“
„Ich bin ganz neidisch darauf“, lautete die prompte Erwiderung. „Ganz besonders gefallen mir die Ärmelfalten. Aber das ist doch keine Perlenstickerei, oder?“
„Perlen? Vater würde nie Geld für echte Perlen ausgeben. Das sind Glasperlen.“
„Mutter will mir immer noch keine andere Farbe als Weiß gestatten, obwohl ich darin wie ein dickes Ei aussehe. Ein Straußenei. Dich aber kleidet dieses Blauviolett wunderbar.“
„Aber als wir das Kleid bestellten, hat sich die Schneiderin einen derben Scherz erlaubt. Sie meinte, ich würde wohl die einzige Frau in London sein, die solch ein Kleid trägt, weil sie nämlich den ganzen Stoffballen dafür brauchen würde. Und das ist noch gar nichts im Vergleich zu den zahllosen Scherzen, die ich mir anhören musste, als Mutter noch meinte, sie müsse jeden einigermaßen passablen Herrn im Saal dazu zwingen, mich zum Tanz aufzufordern. Wenn ich die Verlobung mit Ravensthorpe löse, muss ich das alles wieder durchmachen.“ Sie erschauerte.
„Die Männer sind dumm, wenn sie so etwas wie Körpergröße wichtig nehmen! Du hast zum Beispiel wunderschöne Augen von einem silbrigen Blau, wie ich es noch bei keiner anderen Frau gesehen habe. Und dein Haar hat eine hochmodische Farbe, auch wenn es sich partout nicht locken will. Aber Blond mögen die Männer.“
„Tu das nicht!“, sagte Lucy heftig. „Gönn mir doch wenigstens eine Freundin, der ich die Wahrheit sagen kann! Verglichen mit den anderen Damen im Saal bin ich eine Riesin. Die meisten Gentlemen wollen keine Frau von meiner Größe heiraten; sie wollen ja nicht einmal mit mir tanzen.“ Es war geradezu befreiend, die Wahrheit laut auszusprechen, auch wenn sie dadurch nicht angenehmer wurde.
Olivia schwieg eine Weile. „Ravensthorpe tanzt sehr wohl mit dir“, gab sie schließlich zu bedenken. „Und er ist schließlich ein ganz normaler Mann.“
„Er will mich doch bloß heiraten, weil er nach einer ehrbaren Verbindung strebt.“ Lucy stellte zu ihrem Entsetzen fest, dass ihre Stimme ein wenig zitterte. Sie streifte ihre Handschuhe ab und suchte nach einem Taschentuch. „Weißt du, dass ich nur noch geheult habe, seit ich von meiner Erbschaft hörte? So etwas hat es bestimmt noch nie gegeben: Dass einer Frau Angst und bange wird, weil sie eine Erbschaft gemacht hat.“
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