Das Mauerblümchen erringen (German Edition)
gespannt.
Grimmig presste Cyrus die Lippen zusammen. Es war nicht wichtig.
Sie war nicht wichtig.
4
Als Lucy hinter den Palmen hervorkam, erblickte sie Ravensthorpe an der Tür des Ballsaals. Selbst aus der Entfernung bewirkte sein Anblick, dass ihr das Blut in die Wangen schoss. Und wieder kündigte sich die quälende Schüchternheit an, die sie stets in Gegenwart ihres Verlobten befiel.
Wäre Ravensthorpe doch nur nicht so schön gewesen! Seine Augen hatten die Farbe des stürmischen Meeres, und sein wie gemeißelt wirkendes Gesicht hätte ebenso gut einem Aristokraten wie einem Piraten gehören können. Er war zehnmal männlicher als sein Cousin, der Herzog von Pole. Obgleich Pole natürlich Ravensthorpes männliche Attribute dazu benutzte, abfällige Bemerkungen über dessen plebejischen Vater zu machen.
Denn um ehrlich zu sein: Lucy hatte ihren Augen kaum getraut, als Ravensthorpe sie vor sechs Wochen um den nächsten Tanz gebeten hatte. Und hatte nicht glauben können, dass er am nächsten Tag um ihre Hand anhielt. Die Reaktion ihrer Mutter hatte darin bestanden, stöhnend durchs ganze Haus zu laufen und über Ravensthorpes Mutter zu lamentieren, dieses Luder, das mit dem Familienanwalt durchgebrannt war.
Lucy hingegen hatte sich auf einen Stuhl fallen lassen, vor Unglauben — und Freude — wie benommen. Die Freude hatte jedoch ein wenig nachgelassen, als sich zeigte, dass Ravensthorpe keineswegs ihre Gesellschaft suchte oder unter vier Augen um sie warb.
In den darauf folgenden Wochen, als Ravensthorpe seine gewissenhafte — um nicht zu sagen, kalte — Distanz beibehielt, hatte Lucy sich immer wieder eingeredet, dass er überkorrekt sei. Korrekter als alle Gentlemen, die sie kannte, aber das war doch gewiss kein Nachteil? Man wollte doch keinen Mann heiraten, der Frauen ins Gebüsch schleifte, um sie zu küssen. Oder gar Schlimmeres mit ihnen anzustellen.
Wenn sie genug Mut besäße, dann würde sie Ravensthorpe ins Gebüsch zerren. Doch darum ging es gar nicht. Schon, bevor sie einander vorgestellt waren, hatte sie von Cyrus Ravensthorpe als Pirat geträumt, der sie vom Deck eines brennenden Schiffes rettete und in seinen starken Armen hielt, während er auf ein anderes Schiff sprang. Und aus seinem bleichen Gesicht sprach die Angst, sie fallen zu lassen ...
Nachdem Ravensthorpe ihr Verlobter war, hatten diese Tagträume noch an Intensität zugenommen. Sie schienen einander nicht viel zu sagen zu haben, und deshalb hatte Lucy ihn immer wieder verstohlen angeschaut und sich vorgestellt, wie es wäre, die Geliebte eines Piraten zu sein — eine Hauptrolle, die natürlich wieder von Ravensthorpe gespielt wurde.
Piraten saßen durchaus nicht in höflicher Haltung im Salon, tranken Tee und tauschten mit der Mutter ihrer Geliebten höfliche Banalitäten aus. Piraten begehrten ihre Braut. Sie riskierten Leib und Leben, um ihre Zukünftige zu beschützen. Sie waren besitzergreifend, stark und leidenschaftlich.
Nur eine Närrin wie sie hatte glauben können, dass Ravensthorpe solche Gefühle für sie hegte.
In einem Ballsaal war er selbst aus der Entfernung gut zu erkennen, denn er überragte die anderen Männer um einen ganzen Kopf. Lucy konnte seinen Weg durch den Saal mühelos verfolgen. Seine Miene war kultiviert, aber eisig. Und sein Mund mochte zwar schön geschwungen sein, aber man konnte sich schwerlich das Lächeln eines Liebenden auf diesen Lippen vorstellen.
Unmöglich. Seine Gefühllosigkeit schien tief in ihm verwurzelt zu sein, sie gehörte ebenso zu ihm wie seine klugen Augen, die jede ihrer Bewegungen genau studierten — ohne sie indes zu kommentieren.
Lucy seufzte. Selbst wenn Ravensthorpe ganz offenkundig kein Pirat war, war er doch der einzige Mann in London, dessen Anblick sie in Glut versetzte.
Ob Demütigung oder nicht — sie musste ihn einfach dazu bringen, sie zu küssen. Wenn sie es nicht tat, würde er seine Aufmerksamkeit der nächsten Dame zuwenden. Diese Furcht bewirkte, dass sie ihren Winkel verließ und sich auf das
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