Das Mauerblümchen erringen (German Edition)
Cyrus. Sie haben mich ausgewählt, weil ich nicht hübsch genug bin, um einen Bewerber von höherem Rang zu ergattern.“
Sie verkündete es im Brustton der Überzeugung. Sie hatte ihr Kinn hochgereckt und fixierte ihn mit dem grimmigen Blick eines Habichts.
„So habe ich das nie gesehen“, entgegnete er und brachte, mit einiger Mühe, wieder die Ruhe auf, die er als Schutzschild gegen die Anfeindungen der Welt benutzte. „Man wählt seine zukünftige Ehefrau nicht nach oberflächlichen Werten wie Aussehen.“
Und sogleich wurde ihm klar, dass er einen großen Fehler gemacht hatte. Das Licht in ihren Augen erlosch. „Ja, wie auch immer“, sagte sie. „Ich löse unsere Verlobung, Cyrus, und zwar nicht wegen der Erbschaft, die ich gemacht habe, oder weil meine Eltern es mir befohlen haben, sondern weil Sie mich offensichtlich überhaupt nicht kennen. Oder begehren.“ Mit einem ironischen Lächeln sah sie ihm in die Augen. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann stellen Sie sich möglichst bald ihrer Zukünftigen vor. Und machen Sie ihr auch persönlich einen Antrag; das erwarten junge Damen heutzutage.“
Cyrus kam sich vor, als wäre er am Boden festgenagelt worden. Natürlich hatte sie recht. Er hatte sie überhaupt nicht als Mensch gesehen. Miss Towerton war nur eines der Ziele auf seiner Liste gewesen, ein Punkt auf dem Plan, den er vor Jahren in Eton geschmiedet hatte.
Er räusperte sich. „Wenn ich Sie in irgendeiner Weise gekränkt haben sollte, tut es mir zutiefst leid, und ich bitte um Vergebung. Ich finde Sie nämlich sehr anziehend.“ Das klang gestelzt und dumm. Panik keimte in ihm auf. Er hasste es, wenn ihm ein Gespräch entglitt.
Ihr Lächeln wurde breiter, und auf ihrer rechten Wange erschien unversehens ein Grübchen. Ein Kussgrübchen, hieß es nicht so? „Ach, Sie brauchen sich nicht so viel Mühe zu geben. Ich habe immer schon gewusst, dass Sie für mich zu schön sind.“
„Wie bitte?“ Ihm klappte der Mund auf.
„Sie wissen schon“, sie wedelte mit der Hand in seine Richtung. „Sie stellen alle anderen Gentlemen in den Schatten. Es war absurd zu glauben, dass ein Mann wie Sie mich überhaupt nur ansehen würde. Vermutlich“, fügte sie nachdenklich hinzu, „hätten Sie sich gleich nach unserer Hochzeit eine wunderschöne Geliebte genommen, und das hätte mich sehr traurig gemacht.“
„Das hätte ich ganz bestimmt nicht!“, protestierte Cyrus.
Sie hob amüsiert einen Mundwinkel. „Was nicht? Sich eine Geliebte nehmen — oder eine schöne Geliebte? Ich glaube kaum, dass eine Ehefrau ihrem Mann vorschreiben kann, welche Art Geliebte er wählen soll, und mir würde es sehr missfallen, von einer bonne amie in den Schatten gestellt zu werden, die alle Reize besitzt, deren ich entbehre.“
„Ich habe keine Geliebte und auch nicht die Absicht, mir eine zuzulegen.“
„Ich wollte einfach den Unterschied zwischen uns nicht zugeben“, sagte Lucy, als hätte sie nicht zugehört. „Ich wollte wohl nicht zu viel darüber nachdenken. Es ist nicht einfach, ein Mauerblümchen zu sein ... im Grunde ist es eher entmutigend.“
Cyrus durchfuhr ein sengender Blitz aus Mitleid und Bedauern. Er suchte verzweifelt nach Worten, doch aus seiner Kehle drang nicht ein Laut. Das war einfach absurd: Sonst war er nie um Worte verlegen.
„Wie dem auch sei“, fuhr sie nach einer Weile fort. „Nun, da ich endlich die Gründe aufgezählt habe, derentwegen Sie mich auswählten, fühle ich mich wie befreit. Denn im Grunde haben Sie mich nie wirklich gesehen . Als den Menschen, der ich bin. Jedes andere Mauerblümchen wäre Ihnen ebenso zupass gekommen. Also brauche ich mich nicht persönlich gekränkt zu fühlen.“
Wieder legte sie eine Pause ein und wartete auf seine Reaktion, aber Cyrus war sprachlos. Hielt sie ihn tatsächlich für einen derartigen Flegel? War es möglich, dass er sich wie ein Flegel betragen hatte?
Da er nicht antwortete, fuhr sie mit leise mahnender Stimme fort: „An dieser Stelle sollten Sie aber etwas sagen, um meine Erregung zu
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