Das Maya-Ritual
Valdivia hatte nämlich nicht an meiner Seite Hunderte Opfer, die an einem einzigen Tag gestorben waren, in den Abgrund sinken sehen. Auch hatte er nichts von der ungebundenen Form des Toxins gewusst, er kannte nur das, was der Organismus im Körper des Wirts produzierte. Und er hatte nicht gehört, wie Herbie Kastner erklärte: »Ich wäre lieber dem Gift ausgesetzt als den Zysten.«
Ich sah die Szene förmlich vor mir. Die Morgensonne ist bereits über der großen steinernen Stadt aufgegangen.
Tausende von Bürgern in der umliegenden Siedlung entdecken beim Aufwachen die ersten Anzeichen der Infektion: ein juckender Ausschlag, in manchen Fällen erscheinen bereits offene Wunden. Amhakimil hat zugeschlagen! Praktisch jeder Bürger, vom Kleinbauern bis zum Herrscher, hat am Tag zuvor vom Wasser aus dem nahen Zenote getrunken, hat darin gebadet oder ist darin geschwommen.
Alle strömen auf dem großen Platz zusammen, in der Hoffnung, dass der Herrscher und die Priester eine Antwort haben, ein Mittel, das sie von der Geißel befreit, bevor sie die ganze Stadt erfasst oder bevor jene, die nicht infiziert sind, verdursten - denn das Wasser wird sich bald in Gift verwandeln. Doch die Adligen und Priester des Hofes haben keine Lösung, außer darum zu beten, dass Gott Amhakimil sie verschont. Sie spüren bereits die Auswirkungen der Krankheit, als sie auf den Stufen stehen, Weihrauch verbrennen und sich mit Rasierklingen aus Obsidian und Rochenstacheln selbst zur Ader lassen. Dann steigt ein großes Wehklagen aus der Menge empor, als die Alten und die kleinen Kinder als Erste zusammenbrechen, gelähmt an allen Gliedern.
Eine Abordnung von Kriegern, die man zuvor mit einigen zur Opferung vorgesehenen Gefangenen zum Zenote geschickt hat, trifft vor der Pyramide ein, und ihr Hauptmann erstattet dem Hof Bericht: Die Gefangenen sind alle tot, das Wasser ist gekippt.
Der Herrscher spricht. Unter Aufbietung seiner ganzen Kraft teilt er dem Volk mit, sie hätten zumindest die Wahl, wie sie sterben wollten. Er selbst habe seine Entscheidung bereits getroffen. Es stehe ihnen frei, ihre eigene zu treffen. Aber diese Gesellschaft wird seit langem von Herrscherdynastien regiert - was der große Herr und seine Familie tun, ist von tiefer ritueller Bedeutung.
Und so ziehen irgendwann später, als sich der Tag dem Ende nähert, die Adligen und Priester in einer Prozession zum Zenote, und die Mehrheit der Bürger folgt ihnen schweigend. Gelegentlich mag ein gequälter Aufschrei zu hören sein, da sich Liebende trennen. Manche haben sich entschieden, zu bleiben, vielleicht weil sie glauben, nicht infiziert zu sein, oder weil sie hoffen, die Krankheit zu überleben.
Als sie die Lichtung um den Zenote erreichen, strömt die Menge fächerförmig auseinander. Die Krieger haben bereits Vorbereitungen getroffen und die Männer eingewiesen, die das Wasser aus dem Brunnen heraufholen, das an die Stadt verteilt werden soll. Sie gießen es aus langarmigen, hölzernen Hebezügen in große Tongefäße, denen sich die Bürger jetzt nähern, Männer, Frauen, Kinder, alle mit einem hölzernen oder irdenen Becher, den sie aus den größeren Gefäßen füllen. Und dann gehen sie ein kleines Stück in den Wald, in Familiengruppen vielleicht, und gemeinsam trinken sie das Wasser aus dem Zenote.
Solche Ereignisse mögen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Städten stattgefunden haben, jeweils gefolgt von einer Abwanderung aus blühenden Zentren in halb verlassene, sodass die Gesellschaft insgesamt überlebte. Doch es bedurfte nur eines gleichzeitigen Ausbruchs von Amhakimil in einer Reihe großer Siedlungszentren, und die Erbauer der Mayastädte erlitten unausweichlich einen Schlag, von dem sie sich nicht mehr erholen konnten.
Als ich das Buch gerade weglegen wollte, muss ich eine grimmige Miene gemacht haben, denn Sanchez, der in diesem Moment von der Terrasse hereinkam, wirkte beinahe besorgt. »Sie sehen nicht so toll aus, Jessica. Warum legen Sie sich nicht eine Weile hin? Sie haben heute eine ganze Menge durchgemacht.«
»Hm…« Ich war in einer anderen Welt, buchstäblich.
»Woran denken Sie gerade?«
»Es geht nur um das hier«, sagte ich und gab ihm das Buch.
»Sehen Sie das Zitat, etwa in der Mitte der zweiten Seite der Einleitung?«
Sanchez las es. Dann sagte er: »Könnte es sein, dass einige von ihnen geheilt wurden? So nach dem Motto, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben?«
»Nein«, erwiderte ich. »Der Chronist hat damals
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