Das Maya-Ritual
»Ich meine, es war alles vorbei und erledigt, ohne dass auch nur jemand angerufen und Bescheid gesagt hätte. Und was ist mit seiner Familie, wie werden die sich fühlen?«
»Seine Eltern sind beide tot. Ich glaube, er hatte eine Schwester, aber mit der verstand er sich nicht sehr gut. Soviel ich weiß, hatten sie in den letzten zwanzig Jahren keinen Kontakt.«
»Das wäre natürlich eine Erklärung dafür, dass er es ohne viel Aufhebens erledigt haben wollte. Aber du könntest ja diesen Anwalt aufsuchen, damit du zufrieden bist. Es gibt bestimmt ein Testament, und du musst sowieso herausfinden, was deine Position hier ist - im Tauchladen, meine ich.«
Sie hatte natürlich Recht. Nun, da Ken tot war, mussten sein Besitz und das Geschäft abgewickelt werden, und wahrscheinlich wurde der Laden geschlossen.
»Ja, du hast Recht. Und du wolltest in Cancun noch Einkäufe machen, bevor du nach Hause fliegst. Lass uns morgen hinfahren.«
»Ja, gute Idee.«
»Für heute Morgen haben ein paar Taucher gebucht. Alfredo kann sie rausbringen. Wir schließen den Laden und fahren mit dem Pick-up zur Anlegestelle der Fähre. Dann nehmen wir die Zehn-Uhr-Fähre nach Playa del Carmen und von dort den Bus nach Cancun.«
Wir kehrten in unsere Zimmer zurück, aber ich konnte nicht schlafen. Nach etwa einer halben Stunde zog ich mich an, ging in die Küche und machte eine Kanne Kaffee. Dann setzte ich mich auf einen Hocker, schaltete den Computer an und schaute in der Online-Version des Diario del Yucatan die Berichterstattung über Goldbergs Tod in der Woche nach, die seither vergangen war.
Zunächst wurde er als das unglückliche Opfer einer lokalen Fehde um historische Zugangsrechte zur Ausgrabungsstätte von Chichen Itza angesehen. Doch innerhalb weniger Tage war daraus eine Verschwörung gewisser Elemente gegen die Entwicklung des modernen Yukatan und seines Mayaerbes geworden, was bedrohlicher, aber keineswegs erhellender klang. Es gab einen kurzen Hinweis darauf, dass man den Kopf des enthaupteten Opfers aus dem Heiligen Brunnen geborgen habe. Dann verschwand die Geschichte aus den Meldungen, da die Spannungen zwischen den USA und Mexiko wegen des Grenzzwischenfalls zunahmen.
Ich goss mir einen Becher Kaffee ein und setzte mich wieder vor den Computer.
Der Miami Herald ging auf keinen dieser beiden Aspekte als mögliches Tatmotiv ein. Stattdessen stellte der Reporter vor dem Hintergrund verbreiteter Studentenproteste am Tag von Goldbergs Ermordung Überlegungen hinsichtlich einer möglichen Verbindung zwischen diesen Ereignissen an. Die Zeitung brachte auch einige Einzelheiten über Goldbergs Karriere als ein moderner Cecil B. de Mille des Fernsehens, der eine Reihe von historischen Stücken produziert hatte, bevor er sich Festspielen an altertümlichen Stätten rund um die Welt zuwandte, von Angkor Wat in Kambodscha bis zu den Osterinseln im Pazifik, darunter auch Sonnenwendfeiern im englischen Stonehenge und - für Deirdre interessant - an einer jungsteinzeitlichen Kultstätte namens Newgrange bei Dublin. Sein Vorschlag, dasselbe an den Pyramiden von Gizeh zu veranstalten, war von der ägyptischen Regierung jedoch abgelehnt worden, weil man dort eher bestrebt war, die Zahl der Touristen, die in den Sehenswürdigkeiten herumtrampelten, zu beschränken, als sie zu erhöhen.
In den folgenden Ausgaben wurde die Geschichte allmählich mit der Auseinandersetzung zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten verflochten, zweifellos, um die amerikanische Behauptung zu stützen, dass auf beiden Seiten schmutzige Dinge geschahen.
Mittlerweile hatte der anhaltende Propagandakrieg zwischen den beiden Ländern meine Aufmerksamkeit geweckt. Eine Schlagzeile lautete:
VERSTÄRKTE MEXIKANISCHE ARMEE AUGE IN AUGE MIT DER GRENZPOLIZEI. Eine andere:
PRÄSIDENT KÜNDIGT STATIONIERUNG VON KAMPFHUBSCHRAUBERN ENTLANG DER GRENZE AN.
FLUG-ZEUGTRÄGER VOR DER MEXIKANISCHEN KÜSTE.
Es schien, als stünden norteamericanos, die in Mexiko lebten, raue Zeiten bevor.
14
Jorgé Marrufo war ein Mann in den Vierzigern, mit gewelltem Haar und einem birnenförmigen Gesicht, das in ein breites Kinn ausfloss. Letzteres versuchte er, mit Hilfe eines dünnen schwarzen Barts, der einen anderen Umriss zeichnete, schmäler erscheinen zu lassen.
»Ich kannte Senor Arnold nicht persönlich«, waren die ersten Worte, die er hinter dem Schreibtisch in seinem Büro an mich richtete. Seine Stimme klang, als hätte man ihm die Kehle mit Sandpapier geschmirgelt.
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