Das Maya-Ritual
Globalisierung in Prag vor ein paar Jahren.«
Ich erinnerte mich undeutlich, dass sie bei meinem Besuch in Irland zu Weihnachten davon gesprochen hatte. In diesem Moment wurde mir klar, dass wir seit Deirdres Ankunft herzlich wenig miteinander gesprochen hatten. Ich wollte eigentlich, dass sie mich auf den neuesten Stand brachte, mir mehr von Bonnie und ihren Plänen für die Zukunft erzählte. Aber der Aufenthalt in Chichen Itza und jetzt Kens Tod waren dazwischengekommen. Und nun war ich dabei, sie auf meiner Informationssuche in einer persönlichen Angelegenheit zum Haus einer Fremden zu schleifen. Ich beschloss an Ort und Stelle, am Abend mit ihr in ein gutes Restaurant in San Miguel zu gehen, damit wir uns in Ruhe unterhalten konnten.
»Hör mal, Jessica, es würde dir doch nichts ausmachen, wenn ich direkt weiter nach Playa del Carmen fahre und die Fähre nehme, oder?«
Ich war froh, dass sie es ausgesprochen hatte. »Nein, das verstehe ich vollkommen. Aber heute Abend gehen wir zusammen aus, und du bist eingeladen, ja?«
»Ich freue mich schon darauf«, sagte sie und klang erleichtert.
Das Taxi bog in eine Schotterstraße ein und hielt nach rund hundert Metern inmitten eines Haufens gackernder Hühner vor einer Hütte. Als ich ausgestiegen war, bemerkte ich einen Truthahn, der behutsam durch das dschungelartige Gestrüpp stolzierte, irgendwo weiter hinten unter den Bäumen grunzten Schweine, und eine Schar Kinder spielte Verstecken zwischen der Kleidung, die zum Trocknen neben der Hütte hing.
Kurz vor dem Rodungsgebiet, das Marrufo beschrieben hatte, hatten wir Cancun verlassen, aber als wir von der Hauptstraße abbogen, säumten in den Buschwald gesetzte Hütten und Eingeborenenbehausungen den Weg, manche mit den traditionellen schrägen Strohdächern aus Gräsern und Palmenblättern, andere mit Flachdächern, alle zur Vorderseite hin offen, sodass ich beim Vorüberfahren hineinsehen konnte. Fernsehgeräte flackerten, Hängematten spannten sich quer durch den Raum, in ihnen lagen oder saßen Leute, und auf Altären für die Jungfrau von Guadeloupe brannten Andachtslichter.
Während die Kinder in einer Reihe dastanden und mich anstarrten, kam aus der Hütte eine junge Frau, die ein Baby in einem Tuch auf Hüfthöhe trug. Sie war mit einem knappen schwarzen Minirock und einer eng anliegenden weißen Bluse bekleidet. Ihr Lippenstift hatte dieselbe Farbe wie die leuchtend rote Hibiskusblüte in ihrem schwarz glänzenden Haar.
»Maria?«, fragte ich, wusste aber, dass sie zu jung war. Das Baby, ein kleines Mädchen mit dunklen Augen, war so wunderschön, dass ich den Blick nicht von ihm wenden konnte.
»Ah… si«, sagte die junge Mutter und rief dann:
»Mama!«
Eine grauhaarige Frau kam aus der Hütte. Sie trug ein huipil, frisch, weiß und mit einem bunten Blumenmuster bestickt. Ihre Füße steckten in roten Plastiksandalen. Sie war sehr klein, mit einer hohen Taille und einem Gesicht, das ein bisschen zu groß für den Körper zu sein schien, was durch den kurzen Hals noch verstärkt wurde - ein keineswegs ungewöhnliches Aussehen unter den Maya.
Die junge Frau sagte in der Mayasprache etwas zu ihrer Mutter und ging mit ihrem Baby wieder nach drinnen.
»Me llamo Jessica«, sagte ich. »Senor Arnold -«
»Ah, Jessica.« Ihr Gesicht hellte sich auf. Sie machte Schwimmbewegungen mit Händen und Armen. Ken hatte ihr offenkundig von mir erzählt. Hieß das, er hatte Maya mit ihr gesprochen, ohne mir je zu verraten, dass er die Sprache beherrschte? Denn wie sich bei meinem Versuch einer Unterhaltung mit Maria herausstellte, verstand sie kaum Spanisch.
Mit einer Mischung aus Worten und Gesten gelang es mir schließlich, ihr den Grund meines Besuchs begreifbar zu machen: Sie sollte mir beschreiben, in welchem Zustand sie Ken vorgefunden hatte.
Als Erstes erfuhr ich, dass sie drei Vormittage in der Woche zu Ken nach Hause kam, um sauber zu machen. Am Morgen nach seiner Rückkehr aus Chichen Itza lag er im Bett, fühlte sich äußerst unwohl und zeigte auf Schwellungen in seinem Gesicht, die er offenbar mit einem bestimmten Wort bezeichnete.
»Boro«, wiederholte Maria, was sie gehört hatte.
»Boro?« Das Wort sagte mir nichts.
Sie legte die Daumen aneinander und machte mit den Fingern eine Flatterbewegung. Dann deutete sie mit dem Zeigefinger auf ihre Wange, machte mit der anderen Hand eine Faust und schlängelte den Finger zwischen Daumen und Zeigefinger heraus. Ich hatte keine Ahnung, was sie
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