Das mechanische Herz
Pyke. Die verzierten Masken ohne Mundöffnung sollten zeigen, dass ihre Träger keine Befehle zu geben brauchten, und die langen, schweren Gewänder standen als Symbol dafür, dass ihre Besitzer nie schnell laufen, nie etwas tragen mussten. Alles, was ein Erhabener in der Öffentlichkeit zu tun oder zu sagen hatte, sahen seine perfekt trainierten Bediensteten aus der Unterschicht voraus, und wenn das ausnahmsweise einmal nicht der Fall war, so gab es nichts, was ein Erhabener dagegen tun konnte, ohne gegen sämtliche Traditionen zu verstoßen.
So wie die Erhabene Octavus, wenn auch nur kurz, gegen sämtliche Traditionen verstoßen hatte, als sie Gewand und Maske ablegte, um Taya ihr Kind zu übergeben und es so in Sicherheit zu bringen.
Taya vermochte Pykes Verachtung für die herrschende Klasse in diesem Moment nicht zu teilen. Sie empfand den Anblick so vieler maskierter, kostbar gewandeter Aristokraten als eindrucksvoll, mehr noch: fast überirdisch. Nur wenigen Bürgern wurde das Privileg zugestanden, hinter die Masken zu sehen, die die Erhabenen Ondiniums so geheimnisvoll wirken ließen – etwas, woran es der Aristokratie anderer Länder mangelte. Vielleicht kam es deswegen anderenorts so häufig zu Revolutionen: Die Menschen dort nahmen ihre Herrscher als selbstverständlich wahr, als Menschen ihresgleichen. Ondiniums Erhabene dagegen hoben sich durch ihre Geburt und die strengen Vorschriften, die ihr Verhalten regelten, deutlich vom Rest der Menschheit ab.
Gerade kam ein Diener auf die Kutsche zu und sprach kurz mit Gregor, ehe er an die Tür klopfte.
„Taya Ikara?“
Taya holte tief Luft – jetzt ging es los.
„Hier!“ Sie hüllte sich enger in ihren Umhang, als der Diener die Tür aufriss, war doch die Herbstluft hier oben empfindlich kalt.
Beim Anblick ihres ungezeichneten Gesichts stutzte der Livrierte kurz, hatte sich aber rasch wieder gefangen und verneigte sich tief.
„Darf ich dich zur Tür geleiten? Lady Octavus hat uns befohlen, dich gleich nach deiner Ankunft ins Haus zu geleiten.“
„Gern!“ Dankbar ergriff Taya die Hand des Dieners und ließ sich aus der Droschke helfen. In einem so engen Kleid zu sitzen und sich zu bewegen hatte bislang nicht zu den Dingen gehört, die sie trainierte!
„Viel Glück, Ikarierin!“, rief Gregor ihr nach. „Der Mann da sagt, für deine Heimreise sei bereits Sorge getragen.“
Taya drehte sich um. „Vielen Dank, Gregor!“
Grinsend legte der Kutscher zum Abschied die Hand an die Mütze.
Als Taya in Begleitung des Livrierten die Straße hinunter auf das Eisentor zuschritt, wandten sich ihnen zahlreiche Köpfe zu. Taya erbebte. Sie fühlte sich trotz ihres Capes im Vergleich zu all den wohlverhüllten Gestalten um sie herum seltsam nackt. „Jetzt ist es zu spät!“, dachte sie, indem sie sich kerzengerade aufrichtete. „Jetzt gibt es kein Zurück mehr, und auf jeden Fall hat mein Kleid die eine Wirkung: Nach dem heutigen Abend wissen wieder alle, was für ein lockeres Völkchen wir Ikarier sind!“
Die Flügeltüren des großen Hauses standen weit offen. In der Eingangshalle erstrahlten in Kronleuchtern und auf hohen Regalen Tausende von Wachskerzen, mit Bedacht so plaziert, dass sie sich weit außerhalb der Reichweite langer, weiter Ärmel und über den Boden schleifender Säume befanden. Hohe, goldgerahmte Spiegel reflektierten das Licht und ließen den Aufmarsch der Gäste so endlos erscheinen, dass Taya ganz schwindelig wurde. Mehr und mehr reglose, juwelenbesetzte Masken wandten sich ihr zu. Sie musste schlucken, um nicht die Fassung zu verlieren.
Der Diener geleitete sie durch die Eingangshalle zu den Türen, die ins Innere des Hauses führten.
„Darf ich dein Cape nehmen?“, fragte er höflich. Taya sah sich um. Richtig. Hier, in sicherer Entfernung von der Straße, legten auch die Erhabenen ihre öffentlichen Roben und Ebenholzmasken ab, verwandelten sich in ganz normale Leute, die einander lachend und fröhlich plaudernd begrüßten.
„Natürlich.“ Sie streifte den Samtumhang ab, der ihr in Jayces Geschäft so ungeheuer kostbar und luxuriös vorgekommen war, jetzt aber im Vergleich zu den Gewändern der Erhabenen eher abgetragen und schäbig wirkte.
„Egal!“, ermahnte sie sich streng. „Niemand erwartet von dir, so angezogen zu sein wie eine Erhabene.“
Hoffte sie jedenfalls ...
Wieder wandten sich ihr neugierige Köpfe zu, als der Diener ihr den Mantel abnahm und die nackten Oberarme sowie das gewagte Dekolleté
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