Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
Ärger und Argwohn ging ich nach oben. Wenn Sam die Tagebücher genommen hätte, hätte er es mir bestimmt gesagt. Er brauchte keine
Recherchen über meine Eltern anzustellen, und die Bücher auf seinem Fußboden hätten Musikbücher sein können.
»Wir kommen deshalb so spät«, erklärte Sam, »weil Ana begonnen hat, ein Menuett zu komponieren.«
»Und du hast sie daran arbeiten lassen, bis ihre Hände blau waren?« Orrin kicherte.
»Ihr beide solltet sie bitten, es bei eurem nächsten Besuch zu spielen. Es ist sehr schön.«
Ich strahlte noch über sein Lob, als ich das Lesegerät fand, das ich suchte, und rief Menehems Tagebücher auf. So zu lesen tat mir zwar in den Augen weh, aber ich schaffte jede Seite und suchte nach einem Hinweis auf Menehems Forschungsziele und darauf, wohin er gegangen sein mochte, nachdem er Li und mich verlassen hatte.
Er schien von der neugierigen Sorte zu sein – das musste er als Wissenschaftler wohl auch. Es gab ganze Tagebücher, die den geothermalen Erscheinungen um die Caldera gewidmet waren, vor allem den Gasen, die einige von ihnen abgaben. Er hinterfragte die Entscheidungen des Rates, Heart und seinen strahlenden Tempel, selbst die Gründe für die Existenz der Menschen, wenn es ein Dutzend anderer dominanter Spezies auf der Welt gab: Drachen, Kentauren, Phönixe, Einhörner und Riesen. Ganz zu schweigen von den Erzfeinden der Bewohner des Reiches, den Sylphen. Er hasste Meurics Beharren darauf, dass Janan für die Existenz der Menschheit verantwortlich sei, noch mehr als Deborls Idee, dass wir hier waren, weil wir anderen Geschöpfen überlegen waren und eines Tages den Rest der Welt für uns beanspruchen würden.
Beide Gedanken kamen mir idiotisch vor. Ich hatte mir noch keine Meinung über Janan gebildet – er konnte real sein, obwohl ich bezweifelte, dass er gütig war –, aber Deborls Idee stimmte ich definitiv nicht zu. Soweit ich wusste, hatte niemand
jemals versucht , den Rest der Welt zu beanspruchen, und wenn das sein Ziel war, dann hätte er längst damit anfangen müssen und nicht erst »eines Tages«. Außerdem konnte man Sylphen nicht töten.
Als ich mit der Lektüre von Menehems letztem Tagebuch fertig war, hatte ich das Gefühl, dass er in Heart nicht sehr beliebt gewesen sein konnte. Er war defensiv und zynisch und klagte oft die Gesellschaft an, sie würde stagnieren und sei zufrieden mit der Welt, wie sie war. Seine Bemerkung über das Stagnieren der Gesellschaft konnte ich nicht nachvollziehen – die Leute erfanden immer noch haufenweise interessante Dinge –, dennoch fand ich es gut, dass er keine einfachen Antworten auf schwierige Fragen akzeptierte und dass er dachte, die Menschen sollten sich selbst kritisch hinterfragen.
Ich hatte ihn immer gehasst, weil er mich Li überlassen hatte, doch als ich ihn jetzt durch seine Tagebücher kennen lernte, fand ich einiges, was ich bewundern konnte.
Bevor mir die Zeit davonlief, warf ich einen Blick auf seine beruflichen Tagebücher. Vor seinem Verschwinden hatte er Sylphen studiert und versucht, Chemikalien zu benutzen, um sie zu beeinflussen oder handlungsunfähig zu machen. Es gab jedoch keinen Hinweis darauf, ob es ihm gelungen war.
Falls jemand Sylphen kontrollieren konnte …
Ich starrte auf meine Hände und erinnerte mich an Lis sarkastisches »Gute Reise«, bevor ich das Purpurrosenhaus verlassen hatte, als Sam auf der Treppe erschien. »Zeit, nach Hause zu gehen.«
Nachdem ich das Lesegerät ausgeschaltet hatte, folgte ich Sam nach unten und tippte dabei Lampen aus. Whit und Orrin waren schon gegangen.
»Ist alles in Ordnung?« Sam hielt mir den Mantel hin.
Ich blickte zu den Schreibtischen hinüber, an denen die
Archivare gearbeitet hatten; sie hatten gewusst, wer diese Tagebücher hatte, und es mir nicht verraten. Vielleicht hatte Sam die Bücher. Vielleicht auch nicht. Trotzdem dachte ich nicht, dass er etwas tun würde, um mir zu schaden.
»Gestern Abend war dein Zimmer voller Bücher. Was waren das für welche?«
Seine Miene verfinsterte sich. »Ich bin mir nicht sicher, ob das ein guter Zeitpunkt für dieses Gespräch ist.«
Ich riss meinen Mantel an mich, stieß die Arme in die Ärmel und zog meine Kapuze hoch. »Na schön.« Eingemummt in meinen Schal wuchtete ich die Tür auf und ging mit großen Schritten hinaus.
»Ana.« Sam stand neben mir, berührte mich jedoch nicht. Nur Tempellicht erhellte sein Gesicht, ich fummelte immer noch an der Taschenlampe herum. »Ich
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