Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
keine so große Rolle, wie ich gedacht hatte.
Ich fand Sarit, aus deren schwarzem Haar graue Federn ragten, und eine leuchtende Maske bedeckte die untere Hälfte ihres Gesichtes. Orangefarbene Wangen hoben sich scharf von der gelben Seide ab. Lange, graue Stoffbahnen waren über ihre Arme drapiert und stellten Flügel dar – viel besser als meine.
»Was bist du?« Ich hatte diese Art Vogel noch nie gesehen.
»Ein Nymphensittich.« Sie lächelte unter dem breiten, gebogenen Schnabel. »Sie stammen von der anderen Seite des Planeten.«
Mir kam schon der Süden des Reichs weit entfernt vor. Ich musste daran denken, sie nach den Vögeln zu fragen, aber nun ergriff sie meine Hand und zog mich zur Treppe des Rathauses, wo eine Reihe von Bogen aufgestellt worden war, wenn auch nicht in gerader Linie. Sie waren überall willkürlich verteilt. »Was ist das?«
»Der Rundum-Marsch. Auch Rundum-’Arsch genannt.« Sie kicherte. »Nein, nenn es bloß nicht so vor den Leuten, die die Neuwidmung veranstalten. Sie werden sonst sauer. Offiziell heißt es Bogen-Rundmarsch.«
»Ich wette, du hast damit angefangen.«
»Vi-ie-leicht.« Sie dehnte das Wort zu mehreren Silben in die Länge. »Aber die Idee ist wirklich toll. Sie beginnen am ersten Bogen am Fuß der Treppe, dann suchen sie sich den Weg durch die anderen, bis sie oben ankommen. Die ganze Zeit über sind ihnen die Augen verbunden.«
»Ihre Augen sind verbunden? Die Bogen stehen nicht mal in einer Reihe. Sie sind überall!« Ich starrte sie an. »Das denkst du dir doch aus.«
»Nein. Es soll die Ungewissheit der Zukunft symbolisieren. Sie dürfen sich an den Händen halten und einander Vorschläge machen, in welche Richtung sie gehen sollen. Sie werden die Anordnung ohnehin beim Tanzen gesehen haben.«
Für mich klang es immer noch verrückt.
»Jeder Bogen symbolisiert etwas Wichtiges. Der Obsidian-Bogen ist die Nacht, die Blumen – da Winter ist, sind sie aus Seide – stehen für Glück, die Kiefer bedeutet Gesundheit, und so weiter.«
»Was passiert, wenn sie es nicht durch alle Bogen schaffen?« , fragte ich, während wir auf das Büfett zuschlenderten.
»Sie schaffen es immer.« Sie beugte sich zu mir vor. »Bis auf das eine Mal, da haben sie die Kiefernzweige ausgelassen. Es war wahrscheinlich Zufall, aber in dem Jahr sind viele Menschen krank geworden …«
Ich erschauderte und vermutete aufgrund ihres Tonfalls, dass Ash und Tera danach nicht mehr lange gelebt hatten. Trotzdem, es war schon romantisch, wie sie immer wieder zueinander zurückfanden.
Überall wurde getanzt. Sarit zog mich in den nächsten Kreis für einen schnellen Tanz mit acht Personen, bei dem ich so oft in die Hände klatschen musste, dass sie mir am Ende wehtaten. Anschließend kamen wir zu einer anderen Gruppe, dann zu einer weiteren, und manchmal fanden wir neue Partner, aber immer behielten wir einander im Auge, so dass wir notfalls jemanden hatten, mit dem wir tanzen konnten.
Für zwei Stunden war ich ein Schmetterling, der von Blume zu Blume flog, der in einem Geflatter seidener Flügel durch die Maskerade wirbelte. Ich hatte mich nie zuvor hübsch gefühlt, aber mir machten so viele Menschen Komplimente, dass ich ihnen beinahe glaubte.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ zu keiner Zeit nach. Ich empfand es sogar umso stärker, je länger der Abend sich hinzog. Sam hatte ich noch immer nicht ausfindig gemacht, aber er hatte sich wahrscheinlich gelangweilt und war wieder nach Hause gegangen. Er hatte ja ohnehin nicht kommen wollen.
Ich bereute es, so viel Kaffee getrunken zu haben, entschuldigte mich bei Sarit und schlüpfte in das Rathaus, um die Toilette zu benutzen. Ich brauchte ohnehin eine Pause. Meine Beine waren müde, und ich hatte vom Lächeln einen Krampf im Gesicht.
Ich hatte nicht gewusst, was mich bei dieser Zeremonie erwarten würde, aber es machte Spaß, wie Stef es prophezeit hatte. Außerdem gefiel es mir, wie wichtig es den Menschen war. Vielleicht gaben sie sich keine Mühe, ihre Identität zu verbergen, aber die Tatsache, dass sie sich so viel Arbeit damit gemacht hatten, Tera und Ash einen besonderen Abend zu bereiten …
Das bewunderte ich sehr.
Ich fühlte mich besser, als ich wieder herauskam und den Blick von der Treppe über die Menge schweifen ließ. Masken glitzerten, doch in der Nacht gab es auch dunkle Ecken. Ich sah den Würger wieder, ebenso den Pfau, und beide taten so, als beobachteten sie mich nicht, als ich die Stufen
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