Das Meer Der Tausend Seelen
das könnte mal ein Dorf gewesen sein, aber jetzt ist nichts mehr davon übrig.«
31
E r tritt zurück, hintereinander gehen wir an ihm vorbei. Die Zäune zu beiden Seiten ziehen sich in einem Bogen weit hin, bis sie in der Ferne kaum mehr auszumachen sind. Vor uns ist nichts: Baumschösslinge, Ranken und Büsche über Haufen von etwas, das einmal war.
»Hier sollten wir unser Lager aufschlagen«, sagt Catcher hinter mir. »Platz ist genug da, und ich will versuchen, durch den Wald zurückzulaufen, um zu sehen, ob die Rekruter hinter uns her sind und wie viel Zeit wir haben. Vielleicht kann ich sie an einem Tor oder an einer Gabelung in die Irre führen.«
Cira will es ihm ausreden, doch ich weiß, sie wird es nicht schaffen. Ich möchte ihm sagen, dass er aufpassen soll, meine Bedenken würde er aber auch abtun. Er und Elias räumen einen Platz für das Feuer, während ich herumwandere und mich umsehe.
Ich fühle mich hier ungeschützt. Nach Tagen unter dem Blätterdach des Waldes ist der Himmel über uns nun zu weit. Ich bin es gewohnt, kleine Schritte zu machen und die Arme am Körper zu halten, weil die Zäune so nah sind. Hier kann ich weit ausholen, sogar rennen, wenn ich will.
Aber ich will nicht. Es ist einfach zu offen. Das ist verstörend.
Ich stolpere über einen Haufen Steine und reiße Unkraut und Ranken weg, darunter scheinen die Reste einer alten Steinmauer zu liegen. An den Rändern sind noch dunkle Brandflecken zu erkennen. Außer den Ruinen hinter dem Vergnügungspark habe ich noch nie eine andere Stadt oder ein anderes Dorf gesehen, und ich versuche mir vorzustellen, wie dieses wohl angelegt war. Während ich herumwandere, finde ich allerlei Gegenstände, ein paar Messer, einen Topf, den Absatz eines Lederschuhs.
Ich schlendere so etwas wie eine breite Straße hinunter. Dichtes Pflanzengewirr erstickt Mauern und quillt aus eingestürzten Türöffnungen, es ist fast unmöglich, sich einen Weg zu bahnen.
Als unter meinem Fuß etwas knirscht, kreische ich auf und mache einen Satz zur Seite. Es ist ein alter Knochen, jetzt ist er zerbrochen und scharf gezackt. Bei meinem nächsten Schritt knirscht es schon wieder. Als ich mich umdrehe, entdecke ich, dass hier überall Knochen liegen, Skelette in jeder Größe, überall. Einige davon haben Löcher in den Köpfen, stählerne Speerspitzen klappern darin. Ich trete noch einen Schritt zurück, rutsche auf einem Schädel aus und knicke mit dem Fuß um.
Keuchend strecke ich die Arme aus, will mich irgendwo festhalten, aber da ist nichts – und ich breche in dem Meer von Knochen zusammen. Sie sind überall: Schädel, Rippen, Oberschenkelknochen. Mein Magen rebelliert, während ich sie bei meinem Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, überall verteile.
Würgend vor Entsetzen krieche ich über sie hinweg. Wie viele Leute müssen das gewesen sein? Wie viele Leichen liegen an diesem Ort herum? Ich denke an meine Mutter, sie hat in einem Dorf im Wald gelebt. Ist sie hier aufgewachsen? Ist sie hier geboren? Ist das der Ort, an dem ich geboren wurde? Was mag nur mit diesem Dorf und den Menschen passiert sein, die hier gelebt haben? Diese Frage werde ich nicht los. Ob es auf der ganzen Welt solche Ruinen gibt? Dörfer, die einmal waren? Wird Vista eines Tages genauso sein?
Ich erinnere mich an ein Bild, das der Lehrer, der uns von der Schwerkraft erzählt hat, mir gezeigt hatte. Es war eine Fotografie, im Weltraum aufgenommen, wahrscheinlich von einem Satelliten. Darauf sei die Welt vor der Rückkehr bei Nacht zu sehen, hatte uns der Lehrer erklärt, und ich kann mich nur noch an ein Meer von Dunkelheit mit mehr Lichtern als Sternen am Himmel erinnern. Das waren all die Städte, Dörfer, Siedlungen und Häuser.
Was wäre wohl jetzt auf so einer Aufnahme zu sehen? Bestimmt viel mehr Dunkelheit. Was all diese Satelliten gesehen haben müssen: Dörfer wie dieses, die eins nach dem anderen verloschen sind, bis nichts mehr da war.
Ich schlinge die Arme um die Brust, während die Sonne hell am Himmel steht. Ist das alles, was wir noch haben, was wir sind? Lichter auf einer Landkarte, die nach und nach verlöschen, sinnlos durchhalten?
In dieser Nacht sitze ich mit Cira allein vor der nackten Glut des Feuers. Ich bin so voll von all den Dingen, die ich ihr nicht erzählt habe, und all den Geheimnissen zwischen uns. »Irgendetwas ist anders zwischen dir und Catcher«, sagt sie. Sie zieht sich die Verbände von den Armen und säubert mit dem Rocksaum die
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