Das Meer Der Tausend Seelen
sein Mund berührt mich – fast, nicht ganz. Etwas anderes zu atmen als ihn, etwas anderes zu fühlen als ihn ist unmöglich.
»Wie wäre ich sonst hier?«, murmelt er. Seine Worte kitzeln meine Lippen.
Auf der anderen Seite des Feuers hustet Cira und bewegt sich, und ich schrecke auf. Der Moment ist zerstört, ich rücke von Elias ab, verziehe mich in die Dunkelheit. So weit weg von den Flammen ist die Luft plötzlich so kalt, als würde man an einem glühend heißen Nachmittag ins Meer springen. Ich werde aus der Hitzeglocke gerissen, in der ich mit ihm gesessen habe. Hinter mir stöhnen die Mudo, der Zaun klirrt.
»Tut mir leid«, murmele ich. Sofort weiß ich, dass ich schon wieder das Falsche gesagt habe. Wenn ich mich dafür entschuldige, was wir getan haben, wie nah wir uns gekommen sind, muss er doch glauben, dass es ein Fehler war, dass ich es bereue. Und ich weiß nicht, ob ich das nun tue oder nicht.
Sein Gesicht, das eben noch so verletzlich wirkte, wird grimmig, genau wie am Strand, als ich mich entschuldigt habe, weil ich ihn fast geküsst hätte. »Ich habe nicht gemeint …«, beginne ich und strecke den Arm nach ihm aus.
Mit einer Handbewegung wischt er meine Worte weg. »Das war blöd von mir«, sagt er.
Ich bin überrascht, wie sehr seine Worte mir wehtun. »Elias …«, entgegne ich, denn er soll begreifen, dass ich ihn nicht wegstoße, sondern einfach nicht mehr weiß, was ich eigentlich will.
Aber er unterbricht mich mit einem Kopfschütteln. »Lass es.«
Mein Magen krampft sich vor Peinlichkeit zusammen. Wie kann es sein, dass ich plötzlich das Gefühl habe, in seinen Augen nichts zu sein, wenn ich vor wenigen Momenten doch anscheinend noch alles war? Er dreht mir den Rücken zu und legt sich vors Feuer.
Ich verstehe nicht, was gerade geschehen ist. Ich verstehe meine Gefühle nicht mehr. Ich kann nur noch an Catcher denken, wie er mir in der Nacht, in der er infiziert wurde, erzählte, dass man manchmal glaube, jemanden zu kennen, und dann würde dieser Mensch etwas sagen oder tun – und plötzlich würde sich alles verändern. Man denke dann nicht mehr so von diesem Menschen wie vorher. So geht es mir mit Elias, nur dass ich mir bei ihm immer noch gar nicht sicher bin. Ich weiß nicht, wo er in mein Leben passt oder wo er passen soll.
Der Schädel liegt in einem Haufen welkender Blumen. Elias, Catcher und Cira drücken sich an das Tor am Ende des Pfades und schauen auf die Zäune dahinter, die sich in großen Bögen um einen weiten, offenen Platz herum ziehen. Ich jedoch konzentriere mich auf die Blumen. Die meisten Blätter haben braune trockene Spitzen. Die Blüten sind schlaff und fast farblos, die Stiele faserig, wo sie aus dem Boden gepflückt wurden.
Ein weiterer schwüler, feuchter Tag geht zu Ende, nicht gefallener Regen und Hitze liegen schwer in der Luft. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, schaue auf den Schädel, betrachte die Fissuren darauf.
»Welche Nummer hat es?«, frage ich die anderen.
Catcher liest die Ziffern ab: »Vierzehn.«
Ich denke an die Worte, die meine Mutter in die Tür ihres Zimmers geschnitzt hat. »Wahrheit und Schönheit sterben aus mit dir.« Diese Zeile hat mich schon immer deprimiert, ich habe nie verstanden, warum sie sie in ihrem Zimmer haben, warum sie an den Tod erinnert werden wollte, der doch ständig am Strand präsent war. Aber eines ist klar: Durch dieses Tor sollen wir gehen.
Weil Catcher immun ist, geht er als Erster, verschafft sich einen Überblick und vergewissert sich, dass dahinter alles sicher ist. Ich schaue immer noch den Schädel und die Blumen an. Vor nicht allzu langer Zeit war jemand hier. Und ich habe das Gefühl, es könnte meine Mutter gewesen sein.
Ich bücke mich und streiche mit dem Finger über den Schädel. Er wurde vom Körper abgetrennt, was normalerweise auf eine Enthauptung hindeutet – das heißt, wer immer es war, war Mudo oder angesteckt. Ein Schauer überläuft mich, ich stehe wieder auf, ohne den Blick abzuwenden. Ob vor der Rückkehr, als die Toten noch tot blieben, die Erde mit solchen Knochen übersät war? Wie muss das Leben damals gewesen sein?
»Alles frei«, sagt Catcher. Er macht das Tor auf, ich erschrecke. »Aber es ist ein bisschen seltsam«, meint er. »Das ist kein richtiger Pfad. Also, der Pfad geht auf der anderen Seite weiter, aber dazwischen liegt ein großes, offenes Gelände, das eingezäunt ist. Ich glaube«, er schaut über seine Schulter in die Leere, »ich glaube,
Weitere Kostenlose Bücher