Das Meer Der Tausend Seelen
Wunden. Ich schaue in die Schwärze des Waldes, zu den Sternen, die über den Himmel ziehen, überall hin, nur sie und ihre Wunden sehe ich nicht an.
»Ich verstehe nicht, was jetzt anders ist an ihm«, fährt sie fort. »Ich dachte, er wäre glücklicher darüber, den Biss überlebt zu haben, aber …« Sie spricht nicht weiter, und ich weiß, dass sie von mir erwartet, die Lücke zu füllen, aber ich habe doch auch nur Fragen. Ich hatte einmal gedacht, ich würde Catcher verstehen, oder zumindest anfangen, ihn zu verstehen. Inzwischen ist er mir noch fremder als Elias.
Ich schaue auf den Boden und beobachte einen Käfer, der einen Grashalm herumschleppt. Die Luft regt sich nicht, Mücken und Zikaden sirren. Und dann ist da natürlich das ständige Stöhnen der Mudo. Sie winden sich an den Zäunen und sind noch reger als sonst, weil der Geruch von Ciras getrocknetem Blut in der Luft liegt.
»Weißt du noch, als wir gesehen haben, wie Mellie hinter dem Rathaus Daniel geküsst hat – als Mutprobe?«, fragt sie. Sie wischt immer noch vorsichtig an ihren Armen herum. Ich nicke und schaue in die Überreste des Feuers. An das letzte Bild, das ich von Mellie habe, will ich nicht denken – auch nicht an Daniel und das Blut.
»Damals dachte ich immer, es könnte nichts Schlimmeres passieren, als bei so etwas erwischt zu werden. Unser größtes Problem wäre, bei wem wir letztlich landeten, dachte ich. Aber doch nicht so was. Nicht Tod und Ansteckung.« Sie zuckt zusammen, als sie einen Verband abreißt, der an der Wunde an ihrem rechten Arm festgeklebt ist. »Ich kann einfach nicht glauben, dass sie jetzt weg sind. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, und ich habe keine Ahnung, wie ich Catcher helfen kann. Oder dir. Oder sonst irgendjemandem.«
Ich werfe meinen Zopf über die Schulter. »Wir haben immer gewusst, dass die Möglichkeit bestand«, antworte ich. »Man hat uns immer gesagt, was außerhalb der Barrieren passiert. Wir wussten von den Mudo.« Ich seufze. »Wir hätten nicht gehen sollen in jener Nacht«, sage ich leise.
Sie hält in ihrer Bewegung inne, die Finger über einem Stapel frischer Stoffstreifen, die als Verbände dienen sollen. Da entdecke ich, wie geschwollen die Wundränder sind. Hochrote Streifen ziehen sich an den Schnitten entlang. Sie bemerkt meinen Blick und will die Arme verstecken, aber ich packe ihre Handgelenke und ziehe sie ins Licht. Ihre Haut ist heiß, fast so heiß wie die von Catcher.
»Cira«, sage ich scharf. Ich will nicht in Panik geraten, will mit ruhiger Stimme sprechen. Doch ich weiß, was die Streifen und die Hitze bedeuten, ich weiß, dass Cira eine Blutvergiftung hat – schon eine ganze Weile. »Warum hast du nichts gesagt?« Ich zerbreche mir den Kopf, versuche mich zu erinnern, welche Pflanzen und Kräuter die Schwellung lindern könnten. Meine Mutter hat immer ein Mittel dagegen hergestellt, und das Rezept dafür habe ich irgendwo im Hinterkopf.
Sie rückt von mir ab. »Hier draußen können wir nichts dagegen tun, ich wollte nicht, dass sich irgendwer Sorgen macht«, sagt sie und verbindet die Wunden wieder.
Ich schüttele den Kopf. »Wir hätten etwas tun können«, sage ich. »Weiß Catcher davon?«
»Nein.«
»Cira, das kannst du nicht vor ihm verbergen.« Er wird verrückt vor Sorge, das wissen wir beide, doch ihm sollte bewusst sein, was hier vorgeht.
Sie spitzt die Lippen, ihre Art, mir zu sagen, dass ich aufhören soll, auf sie einzureden. Aber sie ist meine beste Freundin, und sie ist verletzt, und ich bin wütend darüber, dass sie mir nichts davon gesagt und sich nicht von mir hat helfen lassen. Geheimnisse voreinander zu haben, passt nicht zu uns.
Sie rückt wieder an mich heran und lehnt sich an mich. »Das wird schon wieder, Gabry«, sagt sie. Sie ist immer noch dasselbe Mädchen, das in den Fluss hinausgewatet ist, während ich am Ufer geblieben bin und geweint habe. Sie ist immer noch die, die meine Hand hält und mir erzählt, dass alles wieder gut wird.
»Vielleicht sollten wir nach Vista zurückgehen.« Erinnerungen und Sehnsucht nach der Zeit, bevor sich alles geändert hat, schwingen in meiner Stimme mit. »Wir können etwas für deine Arme finden.«
Sie schüttelt den Kopf und streicht mir das Haar aus dem Gesicht, zupft mir Strähnen aus dem Zopf, wickelt sie sich um die Finger. Wie oft hat sie das früher getan? Wie oft haben wir herumgesessen und gequatscht und unsere Träume miteinander geteilt?
Aber was gibt es jetzt zu
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