Das Meer Der Tausend Seelen
besprechen? Die Leute, die wir kannten – Mellie, Daniel und Blane –, sind tot oder bei den Rekrutern. Die Träume, die wir hatten, sind jetzt ebenso weit weg wie die verblassenden Satelliten, die sinnlos durch die Nacht kreisen. Niemand kann sie zurückholen.
In meinem Traum laufe ich durch den Wald – auf einem Pfad, den kompliziert geflochtene Metallzäune säumen. Ich jage einem Mädchen hinterher, weiß aber nicht, wer sie ist. Jung ist sie und geschmeidig, ihr langes blondes Haar weht hinter ihr her. Am Zaum drängen sich die Mudo, alle tragen sie die weißen Gewänder der Soulers. Sie ziehen und zerren am dünnen Metall, das knarrend hin und her schwingt.
In meinen Lungen brennt der eiskalte Schmerz der Überforderung, beim Rennen habe ich mich über meine Kräfte hinaus angestrengt, aber ich fürchte, wenn ich stehen bleibe, halten meine Beine mich nicht mehr, und ich breche zusammen. Ich bin nicht schnell genug, ich kann das Mädchen nicht erreichen, und irgendwie spüre ich, dass sie es weiß. Trotzdem wird sie nicht langsamer.
Und dann greift sie nach etwas, sie nimmt die Fotografie von Mary und mir im Meer – das Bild, auf dem wir lachend in den Wellen stehen – und wirft sie im hohen Bogen über ihre Schulter. Ich will sie auffangen, doch sie gleitet durch die Luft, dreht und verwandelt sich dabei zu einem blutroten Vogel, der in die Nacht hinausfliegt. Scharlachrote Federn von seinen Flügeln wehen mir entgegen.
An dieser Stelle dreht sich das Mädchen zu mir um, und sofort erkenne ich sie. Ich bin es – ich bin mir selbst hinterhergejagt.
Ich halte an, falle auf den Boden, und während die Mudo die Zäune niederreißen und sich um mich drängeln, starre ich dem Vogel nach, der immer höher und höher steigt, seine Federn fliegen lässt und mich darunter begräbt. Ich beobachte Satelliten am Himmel, die mir eine Nachricht zublinken, die ich nie verstehen werde. Indessen läuft das Mädchen, das ich war, weg in den dunklen Wald.
Dann werde ich am Handgelenk gepackt, von einer Hand, die mir vertraut ist, und aus meinen Träumen gerissen. Keuchend wache ich auf und stelle fest, dass Catcher neben mir im Dunkeln kniet. Das Feuer ist zu Asche geworden, und ich kann die gleichmäßigen Atemzüge von Elias und Cira hören, die beide schlafen.
»Ist ja gut«, sagt Catcher. »War nur ein Traum.« Aber ich habe immer noch Schwierigkeiten mit dem Atmen, und mein Herz pocht so heftig, dass ich zittere. Er zieht mich an sich, und ich schmiege mich in seine Wärme. Sein Puls ist so stark … kaum zu glauben, dass er die Ansteckung in sich trägt. Da ist es ganz leicht, sich einzubilden, es hätte sich nichts geändert, wir wären wieder im Vergnügungspark und der Sommer noch endlos und voller Möglichkeiten.
Ich schaue ihm in die Augen, streiche in der Dunkelheit mit dem Finger an den Konturen seines Gesichts entlang, spüre, wie sich seine Muskeln bewegen. Meine Hand gleitet zu seinem Nacken, ich schiebe ihm die Finger ins Haar und ziehe ihn an mich.
In der Dunkelheit fällt es leicht zu glauben, dies wäre eine Nacht wie jede andere in unserer Stadt … als wären nur wir beide im Vergnügungspark bei einem Flirt mit unserer Zukunft.
Aber dieses Mal lässt er nicht zu, dass unsere Lippen sich berühren. Er dreht den Kopf weg.
»Warum willst du mich nicht küssen?«, frage ich.
32
C atchers Stimme klingt, als würde Regen ins verglimmende Feuer tropfen. »Weil ich infiziert bin.«
»Aber du lebst noch. Die Ansteckung hat keine Bedeutung.« Ich will unbedingt daran festhalten, dass sich wirklich nichts geändert hat. Das Bild von ihm, wie er im Amphitheater zwischen den Mudo steht, verbanne ich aus meinem Kopf. Ich konzentriere mich darauf, wie robust er sich unter meinen Fingern anfühlt und wie ungeheuer menschlich er ist.
»Doch, hat sie, Gabrielle«, sagt er.
»Wie denn?« Das klingt quengelig, aber das ist mir egal.
»Weil ich dich vielleicht anstecken könnte?«
Daran hatte ich gar nicht gedacht. Sofort fühle ich mich verletzlich hier auf seinem Schoß. Mein Hals ist wie zugeschnürt, als ich die plötzliche Angst ersticken will, die mich anspringt. Wenn er nun recht hat? Ohne ein zu großes Risiko einzugehen, lässt sich das nicht feststellen.
Ich weiß nicht, was ich ihm sagen, welche Einwände ich erheben soll. Und mein Schweigen spricht Bände. Er schiebt mich von seinem Schoß, steht auf und entfernt sich vom Feuer.
Ich haste hinter ihm her. »Catcher«, rufe ich leise, um die
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