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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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anderen nicht zu wecken.
    Er beschleunigt sein Tempo, aber ich will ihn nicht gehen lassen. Ich habe es satt, nicht zu wissen, was mit ihm los ist. Und mit uns. Ich stolpere über Schutt und Steine, die ihm kein Hindernis sind. Erst als er den Zaun erreicht, hole ich ihn ein. Er schiebt die Finger durch die Maschen, als suche er Halt, als mache er sich bereit, hinüberzuklettern.
    »Warte«, sage ich voller Verzweiflung, damit er stehen bleibt. Ich stelle mich hinter ihn, drücke mich an ihn und schlinge ihm die Arme um die Brust. »Warte«, wiederhole ich, denn er soll mir zuhören, obwohl ich noch gar nicht sicher bin, was ich sagen will. Seine Hitze umgibt mich, diese stets präsente Erinnerung an seine Ansteckung.
    Ich drücke die Lippen an seinen Hals und frage mich, ob er mein Zittern wohl spürt. Ich küsse ihn auf die Schultern. Spürt er meine Angst? Weiß er, wie elend ich mich gefühlt habe? Er sackt ein wenig in sich zusammen.
    »Ich kann nicht, Gabry«, antwortet er, aber er hält mich nicht zurück. Ich flechte meine Finger um seine, klammere mich mit ihm an den Zaun, die Barriere zwischen unserer Welt und seiner.
    »Du bist genau wie ich«, sage ich. »Wir sind gleich.« Doch ich bin mir nicht mal sicher, ob ich das selbst glaube. Ich weiß nicht mehr, was ich nun mit ihm anfangen soll. Wie soll ich mit ihm reden, mit diesem Jungen, der immer am Rande des Todes steht? Alles, was ich je gewusst, alles, was ich je gelernt habe, sagt mir, dass er tot sein sollte. Schon vor Tagen hätte er sterben müssen.
    Was sagt man zu jemandem, der mit so etwas konfrontiert ist?
    An Elias und die Soulers und ihre Ansichten über Mudo und Menschen, und wie wir miteinander verbunden sind, will ich nicht denken. Stattdessen schiebe ich ihm sein Hemd ein Stück über die Schulter und drücke meine Lippen an die rote Strieme. Das ist das einzige sichtbare Überbleibsel der Wunde, die ihn infiziert hat.
    Genau da wirft sich ein Mudo gegen den Zaun, und ich zucke zurück. Catchers Hitze brennt in der Luft zwischen uns. Er dreht sich um und lehnt sich an den Maschendraht. Hinter ihm schimmert der Mond in den trüben Mudo-Augen, ich sehe die Zacken der kaputten Zähne und die hungrigen Münder.
    Ich versuche mein Entsetzen zu verbergen, aber Catcher sieht es, das weiß ich. »Du bist nicht wie sie«, sage ich noch einmal. Damit will ich uns beide überzeugen, aber er glaubt mir nicht.
    »Ich kann das Risiko nicht eingehen, Gabry«, erwidert er. »Ich weiß doch nicht, ob ich dich anstecke.« Und dann dreht er sich um und ist schon über den Zaun geklettert, ehe ich ihn festhalten kann. Von der anderen Seite steckt er einen Finger durch den Draht, den ich festhalte. »Das ist jetzt ein Teil von mir«, sagt er. Die Mudo neben ihm drängen sich, als wäre er gar nicht da, als wäre er einer von ihnen – und ich lasse ihn los.
    Komm zurück, will ich ihm zurufen, presse aber die Lippen aufeinander. Am liebsten würde ich die Welt anschreien, weil sie mir das angetan hat. Weil sie alles so kompliziert und ungerecht gemacht hat. Ich will gegen die Zäune trommeln und sämtliche Mudo töten und ihrem ständigen Stöhnen ein Ende bereiten.
    Aber ich tue es nicht. Ich stehe einfach da und starre sie an. Für mich waren sie nie etwas anderes als Ungeheuer, als lebendiger Tod, eine Plage, mit der man zurechtkommen musste. Und doch gehen Elias’ Fragen mir noch im Kopf herum. Also denke ich darüber nach, ob noch etwas von dem übrig geblieben sein könnte, was diese Menschen einmal waren. Ist vielleicht noch etwas davon in ihnen gefangen?
    Denn wenn ich lebendig bin und die Mudo tot sind – was ist Catcher dann?
    Am nächsten Morgen wecken mich Schreie. Ich weiß nicht, wo ich bin, kämpfe mich aus den Tiefen des Schlafes an die Oberfläche und finde ein Chaos vor. Bis ich begriffen habe, dass Catcher brüllt, und zwar nach seiner Schwester, brauche ich eine Weile.
    Mit erhobenen Händen sprintet er auf den Zaun zu. »Cira, warte!«, ruft er panisch.
    Sofort bin ich hellwach. Ich schaue neben mich, wo Cira auf dem Boden geschlafen hat, der Platz ist leer. Mein Mund wird trocken, und tausend Möglichkeiten wirbeln mir im Kopf herum. Ich springe auf, Zehen und Finger sind noch taub vom Schlaf.
    Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr – und dann sehe ich Cira am Zaun. Sie ist schon halb oben. Einen Moment lang verstehe ich gar nichts. Ich kann mir nicht erklären, warum sie versuchen sollte, in den Wald zu gelangen. Wovor

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