Das Meer Der Tausend Seelen
Skinner hätten aufgegeben. Es war zu gefährlich, in den Wald zu gehen, wenn man zufällig auf Ungeweihte treten konnte. Aber ich hatte keine Wahl. Nicht mit meiner kleinen Schwester. Ich musste weiter Handel treiben, damit wir in der Stadt bleiben konnten. Es war ein strahlend blauer Tag, als ich in den Wald ging, und ich konnte den Schnee schon riechen, trotzdem bin ich immer weiter vorgedrungen.«
Er schaut mich mit glänzenden Augen an. »Hast du je Stille gehört?«, fragt er schließlich. »Wirkliche Stille? Kein Meer, keine Ungeweihten. Nicht mal das Summen von Insekten oder Vogelgezwitscher.«
Ich bin fasziniert von ihm. Von dem Gefühl, ihn so nah bei mir zu haben und davon, wie seine Stimme an meinem Ohr entlangstreicht. Ich schüttele den Kopf.
»Etwas Schöneres gibt es nicht auf der Welt«, sagt er. »Ich …« Er hält inne und schaut wieder ins Feuer. »Ich bin einfach immer weitergegangen, eingehüllt in dieses weiße Nichts. Dann bin ich in so einer Stadt gelandet. Sie war nicht wie die anderen Städte im Wald, nicht eingezäunt und geschützt. Sondern eine echte Stadt, in der die Rückkehr um sich gegriffen hatte und die man einfach hatte sterben lassen. Es war so still, nichts regte sich. Ich konnte die Straßen entlanggehen und mir vorstellen, wie das Leben in der Zeit vorher gewesen war.
In dieser Stadt gab es ein Denkmal mit einer Tafel, auf der ein großer Weltkrieg erwähnt wurde, in den Bürger aus der Stadt zum Kämpfen geschickt worden waren.« Er lächelt. »Es war ein Flugzeug«, sagt er. »Ein echtes Flugzeug, das sie mitten in der Stadt auf diesen Stein gestellt hatten.«
Ich versuche es mir vorzustellen, doch es gelingt mir nicht. Zwar habe ich alte Bilder in Büchern gesehen, aber auch dann ist es schwer zu begreifen, wie Maschinen Leute durch die Luft transportiert haben sollen.
»Ich konnte mit der Hand an einem der Flügel entlangstreichen.« Seine Stimme klingt so begeistert. »Ich konnte sogar hineinklettern. Stell dir mal vor, wie es wäre, fliegen zu können. Einfach über allem dahinzugleiten.«
»Wie war es?« Ich wünschte, ich wäre mit ihm dort.
»Groß«, sagt er. »Unmöglich, dass sich so was in der Luft halten konnte. Ich habe den ganzen Nachmittag in diesem Flugzeug verbracht. Und ich habe mir so gewünscht, einfach damit abzuheben und mich von dort wegzubringen.«
Er schweigt, und als ich die Augen wieder öffne, sieht er mich an. Doch jetzt ist sein Blick ernst und eindringlich. Die Lachfältchen sind verschwunden, er hat die Stirn ein wenig gerunzelt. Ich schlucke. Mit diesem einen Blick hat er anscheinend alles abgetan, nur nicht mich und ihn und die Erinnerung an ein eingefrorenes Flugzeug.
»Eine Weile habe ich tatsächlich geglaubt, dass … wenn ich es nur genug wollte …« Seine Stimme klingt heiser, traurig.
»Was ist passiert?«, frage ich. Plötzlich weiß ich nicht mehr, ob er von dem Flugzeug redet oder von uns.
Er schaut mich so lange an, dass ich den Blick abwenden möchte. Ich weiß nicht, was ich denken und wie ich reagieren soll, bin mir nicht mal sicher, ob ich seine Antwort hören möchte.
»Nichts«, sagt er schließlich. Seine Stimme bricht kaum merklich. »Nichts ist passiert. Ich habe nur dagesessen, das Flugzeug hat sich nicht von der Stelle bewegt. Es fing an zu schneien, und ich war in der Stadt gefangen. Ich bin in das nächstgelegene Gebäude gegangen; wie sich herausstellte, war es voller Bücher – eine Bibliothek. Der Sturm hielt fast eine Woche an, und dann bin ich wieder gegangen. Wahrscheinlich habe ich alles in dieser Bibliothek gelesen, das irgendwie mit Fliegen zu tun hatte.«
Mein Herz hämmert so heftig, dass er es bestimmt spüren kann. Trotz des Abstandes zwischen uns habe ich das Gefühl, sein Körper hätte mich überall berührt.
Ich presse die Lippen aufeinander und atme zitternd ein. »Glaubst du immer noch, dass etwas wahr werden kann, wenn du es dir nur wirklich wünschst?« Ich denke daran, wie oft ich mir gewünscht habe, die Welt würde aufhören sich zu drehen, oder noch einmal von vorne anfangen zu können. Was wollte ich doch alles rückgängig machen oder zurücknehmen? Habe ich es mir nicht stark genug gewünscht?
Elias rückt so nah an mich heran, dass ich die Wärme seiner Lippen spüren kann. Ich rieche die Süße seiner Haut und die Säure der Trauben, die wir beide gegessen haben. »Ja«, sagt er beinahe tonlos.
Ich bin benommen, mir ist schwindlig, ich habe Angst, mich zu bewegen, und
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