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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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durch mich hindurch, als hätte ich endlich das fehlende Teil gefunden, das alles zusammenhält. Bruchstücke von Erinnerungen verschwimmen und verblassen. Der Raum ist zu klein geworden. Mir ist, als hätte man mich zu tief im Sand eingegraben, und die Flut schwappt um meinen Kopf herum. Immer wieder muss ich schlucken, während ich versuche, das alles zu begreifen.
    Ich habe eine Schwester. So viele Emotionen stürzen auf mich ein, dass ich nicht weiß, woran ich festhalten soll. Wie sieht sie aus? Wie klingt ihre Stimme? Was liebt sie, hasst sie, was ist ihr wichtig? Wer ist sie?
    Eine Wahrheit drängt sich dabei an die Oberfläche. »Du hast es gewusst«, sage ich. Natürlich hat er es gewusst. Deshalb ist er noch immer hier. Deshalb ist er immer da gewesen, als ich allein war, an jeder Ecke. Von Anfang an hat er Bescheid gewusst, während ich nichts geahnt habe.
    Alles zwischen uns ist in dieser Lüge begraben worden.
    Er nickt. Unglücklich sieht er aus. Und er steht in Habtachtstellung da, als würde er sich vor dem fürchten, was ich nun tun könnte. »Sie ist dein Zwilling«, sagt er leise. »Als ich dich das erste Mal gesehen habe, am Strand …« Er spricht nicht weiter und schüttelt den Kopf. »Da dachte ich, du wärst Annah.«
    Ich mache die Augen zu und presse das Gesicht in die Hände. Wie hatte ich nicht wissen können, dass ich einen Zwilling habe? All diese Jahre. Wie habe ich das vergessen können? Wie ist so etwas möglich?
    »Du wusstest es«, sage ich. »Die ganze Zeit, während wir auf dem Pfad gewandert sind, hast du von diesem Dorf gewusst. Du wusstest alles darüber.« Ich denke an die vielen Male, die ich befürchtet hatte, wir könnten eine falsche Entscheidung getroffen haben, als wir in den Wald gegangen waren, an die vielen Momente, in denen ich so sicher war, dass wir alle auf dem Pfad sterben und niemand je davon erfahren würde. In mir regt sich die Wut. »Du hättest es uns sagen sollen! Wir hatten furchtbare Angst!«
    Er hält die Hände hoch, sein Gesicht ist blass. »Nein«, sagt er. »Ich habe es nicht gewusst. Du musst mir vertrauen, ich wusste es nicht.«
    Ich schnaube. Vertrauen? Nachdem ich herausgefunden habe, dass er mir von Anfang an alles verschwiegen hat? Ich verschränke die Arme über der Brust und starre ihn an.
    »Sieh mal, ich wusste, dass ich aus dem Wald war. Natürlich wusste ich das. Und auch, dass du auch daher warst. Aber als du mich nicht erkannt hast … als du mir deinen Namen genannt hast und der nicht Abigail war … habe ich begriffen, dass du dich nicht erinnerst …« Er drückt sich einen zitternden Finger an die Schläfe. »Ich war mir einfach nicht sicher, ob du es wissen wolltest. Vielleicht hattest du ja aus einem bestimmten Grund vergessen. Ich wollte dein Leben nicht durcheinanderbringen.«
    Dieses Mal lache ich tatsächlich, doch sogar in meinen Ohren klingt das verzweifelt. »Mein Leben durcheinanderbringen? Schau es dir doch jetzt mal an. Ich würde sagen, das ist ganz schön durcheinander.«
    Er presst die Lippen aufeinander. »Tut mir leid«, antwortet er.
    Plötzlich ist die Wut verflogen, und ich fühle mich schwach und geschlagen. »Was ist passiert?«, flüstere ich, denn irgendwie müssen wir miteinander verbunden sein.
    Er lässt sich auf die Bank mir gegenüber fallen, unsere Knie berühren sich beinahe. »Wir waren Nachbarn«, sagt er. »Das hier war mein Haus. Du und Annah, ihr habt gegenüber gewohnt. Viele Kinder in unserem Alter gab es hier nicht – du warst gerade fünf geworden, und ich war fast sieben.« Er starrt auf den Boden, als würde er in die Vergangenheit blicken, und ich versuche mir das alles vorzustellen, doch da ist nur Nebel.
    »Wir durften nicht auf die Pfade gehen, aber eines Tages habe ich den Schlüssel zum Tor gestohlen und euch beide überredet, hinauszuschleichen und auf Erkundungstour zu gehen. Dabei haben wir uns verirrt.« Er hält inne und schaut mich an, mit hohlem Blick und verzerrten Lippen. Worte quellen aus seinem Mund, dringliche Worte. »Du bist hingefallen und hast dir das Knie aufgeschlagen, du wolltest nach Hause, aber ich wollte nicht umkehren. Ich hatte Angst, Ärger zu bekommen, weil du dir wehgetan hattest, und ich war wütend auf dich, denn ich wollte weiterspielen. Also habe ich …« Er schluckt wieder. Ich spüre seinen Schmerz und die Verzweiflung, möchte seine Hand nehmen, tue es aber nicht.
    Es fällt mir schwer zu atmen. Es fällt mir schwer, daran zu denken, dass diese

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