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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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stehen. Mit großen Augen schaut er Harry an. »Was?«, fragt er flüsternd.
    Harry geht zu ihm. »Du warst ein Kind, Elias«, fährt er fort. »Es war nicht deine Schuld.«
    Elias kneift die Augen zu, als wolle er ausblenden, was nun kommt. »Ich habe sie mitgenommen, vor die Tore«, sagt er kläglich. »Ich war es, der Abigail – Gabry – zurückgelassen hat. Ich habe Annah nicht wieder zurückgebracht. Es ist meine Schuld. Und jetzt habe ich Annah verloren, und das Dorf ist tot, und das ist meine Schuld.« Er ringt keuchend nach Luft.
    Auch Harrys Augen glänzen, als er Elias bei den Schultern packt. »Hör auf mich, das ist nicht deine Schuld. Alles ist gut.« Elias schüttelt den Kopf, Harry zieht ihn an sich, und ich höre, wie er weint.
    Meine Mutter legt mir den Arm um die Schultern, und ich begreife, dass ich nicht geahnt habe, wie viel Schuld Elias in sich verschlossen hatte, wie viel er seit jenem Tag vor so langer Zeit mit sich herumschleppt. Wie muss das für ihn gewesen sein, als er mich im Meer gesehen hat – als er erkannte, dass ich noch lebe.
    »Was ist mit dem Dorf geschehen?«, frage ich schließlich. »Wo sind die Leute, warum ist es so leer?« Ich schlucke, bohre meine Fingernägel ins Knie und versuche den Mut für meine nächste Frage aufzubringen: »Was ist mit meiner – mit unseren – Familien passiert?«
    Meine Mutter seufzt, ein Geräusch, das schwer in der Stille des kleinen Hauses lastet. Sie geht zur Feuerstelle. »Ich weiß nicht, wie viel du weißt, Elias, oder an was du dich von den Geschichten, die ich dir erzählt habe, noch erinnerst, Gabrielle, aber Harry und ich sind in diesem Dorf aufgewachsen.«
    Während sie spricht, schaut sie Harry an, als wären nur sie beide im Raum. »Als wir ungefähr in deinem Alter waren …« Sie hält inne, ihre Wangen laufen hochrot an. Harry errötet ebenfalls. Ich habe meine Mutter in Gegenwart eines Mannes noch nie so erlebt, und es ist mir ein bisschen peinlich, so als würde ich in ihre intimsten Gedanken schauen. Sie räuspert sich. »Nichts davon spielt wirklich eine Rolle. Das einzig Wichtige ist, dass es einen Durchbruch gegeben hat. Die Ungeweihten sind ins Dorf eingedrungen. Einige von uns sind auf den Pfad geflohen.«
    Sie schaut Elias und mich an. »Dazu müsst ihr wissen, dass man uns in dem Glauben erzogen hat, es gäbe nichts sonst auf der Welt als uns. Wir waren die letzten Überlebenden der Menschheit. Wir durften das Dorf niemals verlassen, und als wir auf der Flucht die Pfade entlanggelaufen sind, war das grauenhaft.«
    Harry geht durch den Raum und stellt sich an ihre Seite, ich merke, wie sehr sie sich seiner Nähe bewusst ist. Bruchteile dieser Geschichte habe ich früher schon gehört, aber ich erinnere mich nicht daran, dass meine Mutter mir von Harry oder der Rolle, die er gespielt hat, erzählt hätte.
    »Ich …« Meine Mutter schaut auf ihre Hände. »Ich habe es geschafft, bis ans Meer zu kommen. Da wurde ich ans Ufer gespült, aber ich hatte Harry zurückgelassen und meine beste Freundin Cass und einen kleinen Jungen namens Jacob.« Sie schluckt, und ich will gerade den Arm um sie legen, als Harry ihre Hand nimmt.
    Sie schaut ihm in die Augen und sagt: »Ich habe versucht, zurückzugehen. Ich habe darum gebeten, dass Leute nach euch ausgeschickt werden, aber sie haben mich für verrückt gehalten. Sie dachten, ich wäre als Schiffbrüchige angespült worden und in der Sonne und im Salzwasser durchgedreht.« Sie macht eine Pause. »Sie wollten euch nicht holen«, sagt sie flüsternd. Jetzt spricht sie nur mit Harry. »Und mich wollten sie auch nicht gehen lassen.«
    Harry drückt ihre Hand. »Ist gut, Mary«, beruhigt er sie. Die beiden schauen sich noch einen Moment länger an, und ich wende den Blick ab, weil es mir unangenehm ist.
    »Wir haben es zurück ins Dorf geschafft.« Harry wendet sich an Elias und mich. »Sie hatten gegen die Ungeweihten gekämpft und sie abgewehrt. Das Münster war ihre letzte Bastion – die Ansteckung hatte darin gewütet, und es musste in Brand gesteckt werden, damit alle starben. Sie hatten keine andere Wahl«, ergänzt er leise.
    »Damals waren nicht mehr viele von uns da. Es gab nur wenige Überlebende. Ich habe Cass geheiratet, aber wir konnten nie eigene Kinder bekommen. Wir haben Jacob aufgezogen, so gut wir konnten. Schließlich bekamen noch ein paar andere Kinder. Du, Elias, warst eines davon. Jacob hat schließlich geheiratet und wurde Vater von Zwillingen. Von dir,

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