Das Meer Der Tausend Seelen
von Häusern zu, nimmt Abkürzungen, als wüsste er, wo er hinwill. Das verstehe ich nicht. Er biegt scharf nach links ab, und ich stolpere hinter ihm her. Die Sonne steht hoch am Himmel und brennt erbarmungslos hernieder, bei jedem Schritt wirbeln Staubwolken auf.
Ich erwarte, Leute rufen zu hören, Gesichter in den Fenstern und Türen der kleinen Häuser zu sehen, an denen ich vorbeilaufe, doch da ist niemand. Unkraut quillt aus den Türöffnungen, auf den vor langer Zeit eingefallenen Dächern wuchern Gräser. Anscheinend fordert die Erde langsam wieder zurück, was einmal ihr gehört hat.
Vor mir rennt Elias durch eine enge Straße und in eins der Häuser, ich folge ihm langsamer und bleibe in der Tür stehen. Drinnen fällt die Sonne durch zerbrochene Fensterläden und bringt die Staubflocken zum Glitzern. Ich schnappe nach Luft. Es dauert eine Weile, bis meine Augen sich an das gedämpfte Licht gewöhnt haben, doch dann sehe ich Elias in der Mitte eines spärlich möblierten Raumes stehen. Er hat mir den Rücken zugewandt, seine Arme hängen schlaff herunter. Er bewegt sich kaum, nur seine Schultern heben und senken sich.
Ich will etwas sagen, aber ich habe das Gefühl, dass dieser Raum irgendwie heilig ist. Er dreht sich um, lässt den Blick über alles schweifen: den Tisch unter dem Fenster, die Bänke am Ofen, das schmale Bett hinten an der Wand.
Als er sich endlich zu mir umdreht, sind seine Augen aufgerissen, seine Lippen leicht geöffnet, als wäre er noch genauso erschüttert wie ich.
»Dieser Mann«, sage ich leise im dämmrigen Licht. »Er schien dich zu kennen. Wie kann das sein?«
Elias steht einfach da, und ich gleite in den Schatten, die Kühle der Dunkelheit streichelt meine Haut. Sein Blick folgt meinen Bewegungen, aber er streckt nicht den Arm nach mir aus. Er bewegt sich gar nicht.
»Warum dachte er, er würde meinen Namen wissen?« Diese Worte laut zu hören, bereitet mir eine Gänsehaut, und mir wird klar, dass ich mehr Angst vor der Antwort habe, als ich gedacht hatte. Aber ich muss es wissen. »Warum hat er mich beim Namen deiner Schwester genannt?«
Er macht einen Schritt vor, und ich zucke zusammen. Das habe ich nicht gewollt, aber ich verstehe nicht, was hier los ist, und ich weiß nicht, ob ich ihm trauen soll. Ich weiß nicht mal, ob ich mir selbst trauen kann. Er geht auf die andere Seite des Raumes und fährt mit den Fingern über den Tisch. Seine Berührung hinterlässt eine tiefe Furche im Staub.
Ich denke an die Nacht am Strand, in der ich Elias getroffen habe. Wie verblüfft er war, als er mich zum ersten Mal gesehen hat, wie er den Arm ausgestreckt hat, um mich anzufassen, als ob er mich kennen würde. Mein Atem stockt, als mir plötzlich ein absurder Gedanke kommt: Kannte er mich?
Alles im Raum ist so still. Es ist, als hätten wir die Zeit hinter uns gelassen. Draußen ist nichts zu hören, nicht mal das Stöhnen der Mudo.
»Elias«, frage ich jetzt mit zitternder Stimme. »Kennst du mich?«
Erst fährt er mit dem Finger über den Tisch, dann an einer Stuhllehne entlang. Schließlich packt er die Lehne, seine Fingerknöchel sind weiß.
Da habe ich genug. Genug von seinem Schweigen, genug davon, nicht zu wissen, ob ich ihm vertrauen kann. Genug davon, ihm jeden Tag so nah zu sein und nichts von ihm zu wissen. »Sag mir, was hier los ist«, brülle ich, hole aus und schlage mit der Faust gegen die Wand. Das Geräusch erschreckt uns beide, sein Blick zuckt hoch, wir schauen uns in die Augen.
In meiner Hand pocht der Schmerz, doch ich beiße die Zähne zusammen. Er soll nicht wissen, wie weh es tut. Ich setze wieder zum Schreien an, als er mich unterbricht.
»Ja«, sagt er endlich. Seine Stimme klingt so ängstlich und beklommen, wie ich mich fühle. »Ja, ich habe gewusst, wer du bist.«
Der Raum dreht sich um mich. Ich drücke meine unverletzte Hand auf die Stirn, stolpere auf die Feuerstelle zu und lasse mich auf eine Bank fallen.
»Erzähl es mir«, verlange ich, bevor ich die Nerven verliere.
Er geht langsam im Raum herum, als müsse er seinen Körper irgendwie beschäftigen, während er nachdenkt. »Das Mädchen …« Er räuspert sich. »Die Frau, nach der ich suche … sie ist nicht meine Schwester.« Seine Stimme klingt wie Wasser, das über schroffe Felsen läuft.
Er bleibt vor mir stehen und starrt auf seine Finger. »Sondern deine.« Endlich hebt er den Blick und schaut mir in die Augen.
»Ich …« Plötzlich ist mein Mund trocken. Ein Ruck geht
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