Das Meer Der Tausend Seelen
Geschichte von mir handelt und nicht von einem anderen Mädchen, irgendeiner Fremden.
»Deine Schwester und ich sind weiter den Pfad entlanggegangen.« Er blickt mir rasch in die Augen und ebenso schnell wieder weg. Schweiß glänzt auf seinen Schläfen. »Wir haben unsere Erkundungstour fortgesetzt. Du hast uns gebeten, auf dich zu warten, dich nicht allein zu lassen, aber ich war so …« Er reibt sich den Kopf und zerkratzt sich dabei fast die Haut. »Wütend. Ich war sauer, weil du hingefallen warst und nach Hause wolltest – und ich nicht.« Er steht auf, geht durch den Raum, bleibt vor dem leeren Tisch stehen.
Ich kann mich an nichts von dem erinnern, was er erzählt. Ich schaue auf mein Knie, da ist eine Narbe. Ich dachte, ich wüsste, woher ich sie hatte. Mit dem Finger streiche ich über die Erhebung, während Elias weiterredet.
»Ich habe Annah mit mir den Pfad hinuntergezogen, weg von dir. Dich haben wir weinend zurückgelassen.« Ich kann die Tränen in seiner Stimme hören, das Elend, den Schmerz und die Schuld. »Wir haben uns verirrt. Ich dachte, ich wüsste, wo wir waren, und als es langsam dunkel wurde, wollte ich zurückgehen und dich holen.«
Es tut mir weh, diese Worte zu hören, aber nur, weil ich mit ihm fühle.
»Aber ich konnte dich nicht finden.« Seine Stimme ist kaum zu hören. »Du warst weg. Und dann hatte ich zu große Angst, wieder nach Hause zurückzugehen, auch wenn ich den Weg hätte finden können. Ich hatte dich verloren, und das war meine Schuld. Ich hatte Angst vor dem, was dein Vater sagen oder tun würde. Ich fürchtete, Ärger zu bekommen, deshalb bin ich weggerannt.«
Sein Hals zuckt. »Ich habe Annah genommen und bin weggelaufen.« Die Worte brechen in einem Schwall hervor, wie bei einem Geständnis. »Ich weiß nicht, wie lange wir den Pfaden gefolgt sind«, sagt er. »Es war Herbst. Regen gab es genug, wir hatten also Wasser. Wir haben Beeren gesucht und Blüten und Trauben. Schließlich haben wir einen Weg nach draußen gefunden. Ein Tor am Waldesrand, das von einem teilweise eingestürzten Tunnel in den Bergen verdeckt wird, nicht weit von der Dunklen Stadt entfernt. Wenn Leute etwas über uns wissen wollten, habe ich einfach gesagt, Annah wäre meine Schwester, und wir wären auf der Suche nach unseren Eltern. In den menschenleeren Dörfern im Wald habe ich genug zum Tauschen gefunden, unsere Abgaben in der Dunklen Stadt konnten wir also bezahlen. Aber ich konnte nie wieder den Weg nach Hause finden, und schließlich habe ich aufgegeben und es nie mehr versucht.«
Er dreht sich um. Wie ein anderer Mensch sieht er aus, sein Gesicht ist vom Selbsthass so verzerrt, dass ich nach Luft schnappe. »Es war meine Schuld. Alles. Wärme, ihre Eltern oder einen vollen Magen hat sie nie gekannt, meinetwegen.«
Ich bin benommen. Er kommt auf mich zu und kniet sich vor meine Bank, nimmt meine Hände, doch ich spüre es kaum. Ich weiß nicht, was ich denken, sagen oder tun soll. Dafür, dass er mich angelogen hat, sollte ich ihn hassen, aber sein offensichtliches Leid schmerzt mich auch.
»Tut mir leid«, sagt er. Ich schließe die Augen, das Gewicht dieses neuen Wissens lastet schwer auf mir. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Jetzt weint er, Tränen glänzen in seinen Augen, seine Schultern zittern. »Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich nicht wollte, dass du mich hasst.«
Hasse ich ihn? Ich starre ihn an, sehe sein Elend und kann mich nicht entscheiden.
»Bitte«, bettelt er mich an. »Bitte, sag, dass alles gut ist.«
Ich will etwas antworten, doch es kommt nichts. Ich kann nur an die Pfade denken, an aufgeschlagene Knie, Versprechungen und Schwestern. All das wirbelt mir im Kopf herum, nichts davon ist greifbar. Für mich ist es nur eine Geschichte, und ich warte darauf, dass sich das Gefühl einstellt, dass sie wahr ist – doch das bleibt aus.
36
E s ist in Ordnung«, sagt jemand hinter mir. Ich zucke zusammen, denn ich habe nicht gemerkt, dass noch jemand hier ist. Ich stolpere von der Bank weg und sehe meine Mutter und Harry in der Tür stehen. Sie kommt herein, nimmt mich in die Arme und drückt meinen Kopf an ihre Schulter.
Es ist so ein vertrautes Gefühl, sie zu spüren, dass ich die Augen schließe und mich in die Geborgenheit fallen lasse. Sie wischt mir die Tränen weg. »Mein Mädchen«, sagt sie leise, und ich nicke. Denn sie ist die einzige Mutter, die ich je gekannt habe.
Über ihre Schulter hinweg sehe ich Elias zitternd in der Ecke
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