Das Meer Der Tausend Seelen
Abigail.« Aus seinem Gesicht weicht die Farbe, und er räuspert sich. »Gabry – wollte ich sagen«, berichtigt er sich, »und deiner Schwester Annah.«
Allein davon zu hören, macht alles so echt. »Meine Mutter«, flüstere ich. »Wie war sie?«
Harry wirft Mary einen Blick zu, bevor er fortfährt. »Sie wurde nach dem Durchbruch geboren«, sagt Harry. »Ich glaube, das hat Jacob besonders an ihr geliebt: dass sie frei von allem davor war. Das hieß auch, dass sie ihn zum Teil nicht ganz verstand und nicht begriff, was in ihm in seiner Zeit außerhalb der Zäune gewachsen war.«
Lächelnd denke ich an sie und stelle Spekulationen über sie an. Ich setze mich auf die Bank und umschlinge die angezogenen Knie mit den Armen.
Harry hält erneut inne, und meine Mutter drückt seine Hand. Er schaut auf die leere Feuerstelle. »Es ist nicht leicht für eine Frau, Zwillinge auszutragen«, sagt er zögernd. »Die Schwesternschaft, die Frauen, die über das Dorf bestimmt haben, waren für die medizinische Versorgung zuständig, das Münster war unser Krankenhaus. Als es niedergebrannt ist, haben wir alle verloren, die etwas von Medizin verstanden. Wir haben Vorräte verloren. Eine einfache Schwangerschaft war schon schwer genug … aber die Komplikationen bei Zwillingen …«
Ich schließe die Augen und lasse mein Gesicht auf die Arme sinken, was jetzt kommt, weiß ich schon. Und ich will es nicht hören.
»Sie ist bei eurer Geburt gestorben«, sagt er schließlich.
Wie oft habe ich über meine Mutter nachgegrübelt. Wie oft hatte ich mich an ihre Stimme und ihren Geruch erinnern wollen und mich leer und unzulänglich gefühlt, weil ich sie vergessen hatte. Und der Grund dafür war, dass ich sie nie gekannt hatte.
»Was ist passiert?«, frage ich mit erstickter Stimme.
Ich höre ein Scharren, als Harry das Gewicht verlagert. Meine Mutter murmelt ihm etwas zu. »Es waren nicht mehr genug Leute da, die den Durchbruch überlebt hatten«, erzählt Harry dann. »Und als ihr drei verschwunden seid …« Er holt tief Luft. »Da konnte Jacob nicht über den Verlust hinwegkommen.« Ich hebe den Kopf und schaue ihn an, die Welt verschwimmt hinter meinem Tränenschleier.
»Er hat ein paar von den anderen Dörflern mobilisiert, und sie haben sich auf die Suche nach euch gemacht.« Harry zuckt mit den Schultern, die Last der Jahre liegt schwer auf ihm. Zum ersten Mal fällt mir auf, wie alt er und meine Mutter aussehen. Sie haben in ihrem Leben so viel durchgemacht. Er schaut auf seine Finger, die mit denen meiner Mutter verflochten sind.
»Sie sind nie wiedergekommen«, schließt er. »Cass und ich sind hiergeblieben. Sie sagte, sie habe genug Zeit im Wald verbracht und wolle den Rest ihres Lebens sicher hinter den Zäunen verbringen. Nach und nach sind alle anderen gestorben, und letztes Jahr ist Cass im Schlaf von mir gegangen.« Seine Stimme bricht, als er das sagt, und meine Mutter legt ihm die Hand in den Nacken. Er senkt den Kopf und streift sie mit der Wange, und sie lächelt sanft.
Ich denke an die beiden, Cass und Harry, allein in diesem Dorf, als einzige Überlebende. Sie haben nie gewusst, ob es hinter dem Wald noch eine Welt gibt – und es war ihnen auch egal. Sie waren zufrieden zu zweit, sicher. Ich denke daran, dass ich beinahe dasselbe Leben gewählt hätte, und ich begreife, wie viel mir entgangen wäre.
»Ich erinnere mich an nichts davon«, flüstere ich. Es kommt mir vor, als hätte ich die Menschen irgendwie verraten, die mich einmal geliebt haben, die in den Wald hinausgestürmt sind, um mich zu suchen. »Mir kommt hier nichts bekannt vor.«
»Schon gut«, sagt meine Mutter. Sie setzt sich neben mich, greift nach meinem Zopf und lässt ihn durch ihre Finger gleiten, so wie sie es immer gemacht hat, wenn ich verstört war. Es wäre so einfach, ihren Worten zu glauben. Aber ich kann es nicht. Ich kann die Vergangenheit nicht so leicht loslassen.
Ich stehe auf, ich brauche etwas, weiß aber nicht, was. Eine Erinnerung, irgendetwas, um mich mit diesem Ort zu verbinden.
»Welches Haus war meines?«, frage ich Harry in der Hoffnung, dass sich irgendetwas in mir regen wird.
Er zeigt mit dem Finger darauf: »Auf der anderen Seite des Weges, drei Türen weiter«, sagt er.
Langsam gehe ich durch den Raum, meine Mutter folgt mir. Ich möchte sie so gern bei mir haben, doch ich habe das Gefühl, das hier allein machen zu müssen. »Lässt du mich einen Moment … allein?«, frage ich sie, und sie nickt
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