Das Meer Der Tausend Seelen
stöhnend die Arme nach uns aus. Quietschend öffnet sich das Tor, wir drängen uns endlich hindurch und schlagen es wieder zu. Seite an Seite schauen wir zurück ins Dorf. Hinter uns rascheln die Bäume, Äste wiegen sich und klingen wie die Wellen an der Küste. Links und rechts von uns hämmern die Mudo an die Zäune. Und vor uns ist – nichts.
Nach einer Weile sehe ich Gestalten, die sich stolpernd im Dunkeln bewegen. Die Mudo füllen die Lücken, langsam quellen sie auf die offenen Flächen.
So schnell wieder wegzumüssen, nachdem ich nun endlich weiß, woher ich komme, ist nicht fair. Ich habe hier Erinnerungen verloren, die ich wiederfinden muss! Das hier ist meine Vergangenheit. Das hier ist, wer ich bin.
Ich denke an das andere Dorf, durch das wir gewandert sind, diese ausgebrannte Hülle einer einst florierenden Welt. Wie viele solcher Dörfer mag es im Wald geben? Wie viele Leben mögen hier in Unwissenheit darüber geendet haben, dass es außerhalb des Waldes noch etwas gibt?
In der Ferne laufen Gestalten, zu viele, meine Mutter und Harry können es nicht sein. Ich klammere die Finger an das Tor, stemme mich dagegen und wünsche, ich könnte sie einfach schnappen und in die Sicherheit zerren.
Endlich entdecke ich meine Mutter, sie läuft auf uns zu, der Rock fliegt ihr um die Beine. In den Armen hält sie anscheinend das Buch von vorhin, die Seiten fest an ihre Brust gedrückt. Es bringt sie aus dem Gleichgewicht, sie stolpert und fällt fast hin.
Jemand läuft direkt auf sie zu. Das muss Harry sein, denke ich einen Moment lang. Erst zu spät erkenne ich, dass diese Person zu groß ist, zu dünn, zu schnell. Unmöglich, dass meine Mutter den Mann sieht.
»Mutter!«, schreie ich.
Sie schaut zu mir auf, das schwache Mondlicht streift ihr Gesicht. Sie lächelt, ihre Wange sieht so glatt und weich aus. In diesem Moment sehe ich sie, wie sie als Mädchen war, so wie ich. Wie sie aus einem Dorf wegläuft nach dem Durchbruch, ohne zu wissen, was die Zukunft bringt. Und dann rennt der Mann hinter ihr sie um und wirft sie zu Boden. Sie versucht, das Buch festzuhalten, dreht sich im Fallen, schleudert die Beine in die Luft. Als ihr Rücken auf den Boden aufschlägt, flattern die Seiten um sie herum wie nach einer Explosion.
Schon bin ich durch das Tor gelaufen, ehe ich überhaupt weiß, was ich tue. Ich weiß nicht mal, was ich schreie. Ich spüre nur Wut, Angst und Entsetzen.
Der Mann ist ein Rekruter, seine schwarzen Hemdsärmel sind aufgerollt und voll rotem Dreck. Mit einem Messer in der Hand beugt er sich über meine Mutter. Sie versucht unter ihm wegzurollen, aber er klemmt ihre Beine zwischen seinen Füßen ein, stellt sich auf ihren Rock und hält sie so gefangen.
Papier schwebt um die beiden herum, das bisschen Licht, das es hier gibt, wird von den dünnen Seiten aufgefangen und reflektiert. Die Zeit scheint langsamer abzulaufen, als hätte nur für diesen Moment die Schwerkraft ausgesetzt, und wir könnten alle davonschweben.
Ich hebe den Arm, die Luft fühlt sich dünner und leichter an. Wenn ich schneller laufen könnte, länger, würde ich es schaffen. Ich könnte den Rekruter mit dem Messer aufhalten.
Mudo tauchen am Rande meines Blickfelds auf wie Wolken vor der Sonne. Sie strahlt zu sehr, meine Mutter. Es ist zu viel, man kann sie nicht direkt anschauen.
Die Gestalt, die aus der Ferne heransprintet, sehe ich nicht mal, und der Rekruter auch nicht. In einem Moment steht er über meiner Mutter, im nächsten schwebt er zwischen den Seiten des Buches in der Luft, als hätte er nicht mehr Substanz als sie.
Geräusche dringen auf mich ein. Stöhnen, Schreie, die Rufe von Männern.
Harry packt meine Mutter, sein Gesicht ist dunkelrot vor Wut und Angst. Sie greift nach den Seiten, aber er packt sie und zieht sie an sich. Odys geht mit gefletschten Zähnen und gekrümmtem Rücken auf den Rekruter am Boden los. Keiner von ihnen sieht mich, als ich angerannt komme.
»Die Schrift!«, schreit sie, während der Rekruter mühsam wieder auf die Beine kommt und Odys noch lauter knurrt.
Harry umklammert ihr Handgelenk. Er ist stärker als sie. Ich begreife nicht, was hier vorgeht, warum sie Widerstand leistet. Mein Körper schreit vor Verlangen, sie wegzureißen.
»Das ist, wer wir sind!«, ruft sie wieder und setzt sich gegen Harry zur Wehr. »Das ist unsere Geschichte!«
»Diese Geschichten sind nicht so wichtig wie unser Leben!«, brüllt er und zerrt sie zum Zaun. Ich beobachte das
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