Das Meer Der Tausend Seelen
Wir erfuhren, wie schnell die Ansteckung sich ausgebreitet hatte, und wie zuerst niemand geglaubt hatte, dass so etwas passieren konnte.
Alle hatten es für so etwas wie eine weltweite Falschmeldung gehalten, bis es zu spät war. Ein Biss genügte – eine Ansteckung. Dann starb der Mensch, wurde zum Breaker und konnte in schneller Folge andere infizieren, bis die kritische Menge erreicht war, sodass sich eine Horde bilden konnte. Es waren zu viele, eine Flutwelle von Toten fegte über den Erdball, bis sich die Überlebenden zurückzogen und Mauern bauten. Bis sich das Protektorat bildete, eine locker organisierte Regierung, die über Information, Güter und Sicherheit wachte.
Aber uns hatte man immer erzählt, der Wald wäre nur Ödland. Sie hatten ihn abgezäunt und damit versucht, die Ansteckung im Zaum zu halten und die Mudo einzusperren. Diese Seiten hingegen erzählen eine andere Geschichte. Gierig überfliege ich sie, überspringe dabei unleserliche Worte und Stellen, an denen die Tinte verlaufen ist.
Ursprünglich war das Dorf Teil eines größeren Netzwerks, einer Reihe von miteinander verbundenen Knotenpunkten, die die Regierung und ihre Armeen strategisch im Epizentrum der Ansteckung verteilt hatte. Einige Dörfer waren gut bevorratet und bewaffnet und von wenigen Auserwählten bewohnt: Würdenträger, Wissenschaftler, Frauen und Kinder. Sie sollten unser Überleben sicherstellen. Andere Dörfer waren die Überreste von Flüchtlingslagern, die bekamen, was das Militär nicht brauchte. Das Dorf meiner Mutter, unser Dorf, gehörte zu Letzteren, es war eine aufgegebene Feldstation, die mit einer Handvoll Ordensschwestern besetzt war.
Uns hat man immer erzählt, die Regierung hätte den Wald geschaffen. Dabei hätten sie natürliche Hindernisse wie Schluchten, breite Flüsse und unüberwindbare Berge als Barrieren benutzt und Zäune gebaut, wo es nötig war. Sie würden versuchen, die Ansteckung im Zaum zu halten, indem sie die schlimmsten Gebiete abriegelten und sämtliche Mudo-Horden dahinter in den Wald trieben, hatten sie gesagt.
Doch das Tagebuch erklärt, dass sie die Wahrheit auch aus anderen Gründen verbargen. Sie hatten nämlich die Hoffnung, eins von zwei sich gegenseitig ausschließenden Zielen zu erreichen, wenn sie den Wald mit Mudo überschwemmten und ihn damit isolierten. Entweder würde die Ausbreitung der Ansteckung eingedämmt, oder an dem Ort, an dem man zuletzt danach suchen würde, würde eine sichere Zone entstehen: im Zentrum der Ansteckung. Sie wussten, wenn das erste Ziel scheiterte, würde die Welt im Chaos versinken. Festungen würden Banditen anheimfallen.
Aber niemand würde auf den Gedanken kommen, im Wald der tausend Augen, wie meine Mutter ihn nannte, nach Leben zu suchen.
Eine Zeit lang kommunizierten die verschiedenen Dörfer, trieben Tauschhandel und teilten. Aber nach und nach fielen immer mehr. Überlebende, die aus infizierten Dörfern entkommen waren, schleppten sich die Pfade entlang auf der Suche nach einem Zufluchtsort. Normalerweise endete das nur damit, dass sie die Ansteckung weiter verbreiteten. Das Netzwerk begann zusammenzubrechen. Eins nach dem anderen erlagen die Dörfer im Wald der Ansteckung, bis schließlich nur noch eine Handvoll übrig war.
Und zu diesem Zeitpunkt schottete das Dorf meiner Mutter sich ab. Die Schwestern verbündeten sich in bedingungslosem Glauben an Gott und die Pflichterfüllung. Sie schlossen die Tore, erklärten die Pfade für verboten und erzählten den Leuten, sie wären die letzten Überlebenden der Rückkehr. Sämtliche Beweisstücke, die dem widersprachen, wurden versteckt oder vernichtet, das schloss auch alle Außenseiter ein, die es wagten, sich dem Dorf zu nähern.
Sie gaben ihren Glauben weiter, nannten die Mudo Ungeweihte – die von Gott Verfluchten. Ihr Weltbild bauten sie um ihre religiösen Überzeugungen herum auf. Doch sie gaben auch ihre medizinische Ausbildung weiter und nutzten sie bei der Suche nach Heilmitteln und Erklärungen. Allerdings fanden sie weder das eine noch das andere. Nur Isolation und Fortdauer.
Diese handgeschriebene Erzählung ist durchsetzt mit Aufzeichnungen über Geburten und Todesfälle, Listen von Verlobungen, von Eheschließungen, Namen von denen, die in die Schwesternschaft eingeführt wurden oder sich den Wächtern angeschlossen hatten, den Herrschern und Beschützern des Dorfes. Das meiste der jüngsten Geschichte fehlt, doch ich blättere die Seiten durch, bis ich den letzten
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