Das Meer Der Tausend Seelen
muss begreifen, dass ich nicht sie bin, dass ich Annah niemals ersetzen werde.
Er schüttelt den Kopf, sagt aber immer noch nichts. Er wirkt sowohl verängstigt als auch wütend, aber vor allem scheint er sich hundeelend zu fühlen. Ich warte darauf, dass er mich für verrückt erklärt, mir sagt, dass ich mich irre. Stattdessen dreht er sich um und geht weg, lässt mich in der Dunkelheit stehen, den Geschmack nach ihm noch auf den Lippen.
Der Mond ist nur eine Sichel am Himmel, deren scharfe Umrisse von der wässrigen Hitze der Sommernacht verwischt werden. Ich gehe wieder in den Garten, in dem ich Cira zurückgelassen habe. Aufgewühlt bin ich, bei der Erinnerung an Elias’ Kuss durchzuckt mit freudige Erregung, doch dieses Gefühl kehrt sich bei dem Gedanken um, dass er mich vielleicht nur will, weil ich ihn an jemand anders erinnere.
Der Innenhof ist leer, mein Herz hämmert gegen meine Brust. Langsam gehe ich auf die Bank zu, auf der Cira zuletzt gesessen hat. Ein kleines Objekt baumelt in der Mitte, ich beuge mich darüber und fahre mit dem Finger an der Kordel von Ciras Superheld-Halskette entlang. Ich nehme sie in die Hand und spüre das Gewicht von Ciras Hoffnungen und Träumen. Sie hat geglaubt, irgendwo da draußen würde es jemanden geben, der viel toller ist als wir, der uns retten würde.
Um mich herum zirpen die Grillen, ein Ochsenfrosch quakt, doch sonst höre ich nichts außer dem Stöhnen der Mudo in der Ferne. Hinter mir ertönt ein Geräusch, meine Hand geht zum Messer an meiner Hüfte, ich drehe mich um.
Meine Mutter tritt aus einem der an den Garten grenzenden Räume. Sie zögert, bevor sie näher kommt, nur kurz, aber ich weiß, dass etwas nicht stimmt.
»Was ist?« Ich bin nicht bereit, das Gewicht neuer Probleme zu stemmen.
»Cira«, sagt sie.
Ich schließe die Augen und lasse meine Schultern sinken. Sie kommt näher und legt die Hände auf meine Arme. »Was?«, frage ich. Meine Stimme ist kaum mehr als eine Brise, die übers Wasser weht.
»Sie ist in den Wald gegangen. Sie hatte ihren Bruder gebeten, ihr etwas zu essen zu holen. Als er weg war, hat sie sich davongestohlen.«
»Was ist passiert?«, flüstere ich. Immer noch ist ein Fünkchen Hoffnung in mir, dass sie recht gehabt haben könnte mit ihrer Annahme, eventuell immun zu sein. Das Zögern meiner Mutter sagt mir alles.
Meine Beine werden schwach, meine Mutter hilft mir, mich hinzusetzen. Sie schlingt ihre Arme um mich und hält mich fest.
Mein einziger Gedanke ist, dass es meine Schuld ist. Ich bin weggelaufen – ich konnte Cira und ihren Schmerz nicht ertragen. Wenn ich stärker gewesen, wenn ich an ihrer Seite geblieben wäre, dann hätte sie sich nicht davonschleichen können.
Ich habe Elias geküsst, als Cira sich geopfert hat.
»Catcher ist ihr gefolgt«, sagt meine Mutter. »Aber das ist schon eine Weile her.« Sie streichelt mein Haar, schiebt eine Strähne hinter mein Ohr. Ich starre auf die Blume, die Cira zuletzt berührt hat, die Blütenblätter werden braun und trocken an den Rändern. Ich habe mich nicht von ihr verabschieden können.
»Warum stirbt alles?«, frage ich. »Dieses Dorf. Cira. Die ganze Welt. Ich verstehe nicht, was das alles noch soll.«
Meine Mutter seufzt. »Ich hatte immer Tagträume von der Welt«, sagt sie leise. Obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen kann, weiß ich, dass sie diesen fernen Blick hat. »Ich habe von den vielen Möglichkeiten geträumt, die es außerhalb des Waldes gab. Und ich habe immer vom Meer geträumt. Das war das Einzige, was ich sehen wollte.«
»Woher hast du gewusst, dass du nichts anderes als das Meer wolltest?«, frage ich mit tränenerstickter Stimme.
Sie zuckt mit den Schultern. »Weiß nicht. Das Gefühl hatte ich schon als Kind. Seit meine Mutter mir Geschichten darüber erzählt hat.«
Ich denke an Catcher und Elias, daran, dass ich im Leuchtturm bleiben wollte, sicher hinter der Barriere, und dass ich immer noch erinnern und vergessen will.
Ich schließe die Augen. »Und was ist, wenn ich nicht weiß, was ich will?« Das ist die Stimme der Angst, die in mir tobt. »Was ist, wenn ich es nie wissen werde? Was, wenn ich mich irre?«
Sie legt mir eine Hand auf die Wange. »Alles wird gut«, sagt sie.
Ich halte den Atem an, warte darauf, dass ihre Berührung mir Trost bringt. Und dann wird mir klar, dass das schon die ganze Zeit mein Problem war. Nicht nur, dass ich Trost, Geborgenheit und Sicherheit wollte, sondern ich habe all das auch bei anderen
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