Das Meer Der Tausend Seelen
haben möchte.
Ich weiß, wie sie ihn anschaut, ich muss es nicht sehen. Und ich weiß, wie das hier enden wird. Tränen brennen mir heiß und salzig im Rachen.
»Ich bitte dich nicht um Erlaubnis, Catcher«, sagt Cira leise.
Da halte ich es nicht mehr aus. Ich kann den Schmerz nicht ertragen, die Wahrheit, dass meine beste Freundin stirbt und zur Mudo werden will. Sie kann nicht wissen, ob sie immun werden wird – das kann keiner von uns wissen. Was, wenn es nicht funktioniert?
Ich entziehe Elias meine Hand und renne aus dem Innenhof, sprinte blindlings durch die Räume, bis ich aus dem Haus in den Abend hinausstürze. Dann rase ich durch die Schatten, um Häuser und Hütten herum. In der Ferne sehe ich einen Hügel am Dorfrand liegen, den renne ich hinauf, bis mein ganzer Körper nur noch danach schreit, anzuhalten.
Ich stehe da und schaue über den Wald, als die Sonne gerade hinter den Wipfeln verschwindet. Hinter mir höre ich Elias näher kommen. Ich kenne seinen Geruch, den Rhythmus seines Atmens, das Geräusch seiner Bewegungen.
»Du darfst sie nicht gehen lassen«, sage ich. Er packt meinen Arm und dreht mich herum. »Du hast mir selbst erzählt, dass du nicht glaubst, was die Soulers über die Auferstehung sagen. Du hast mir gesagt, dass nichts davon wahr ist.« Ich trommele ihm mit den Fäusten auf die Brust, und er hindert mich nicht daran. »Das ist nur so ein blöder Sektenunsinn. Du kannst nicht zulassen, dass sie sich das antut.«
»Das habe ich nicht zu entscheiden, Gabry«, erwidert er.
»Aber sie wird sich umbringen«, heule ich. »Wir sollen Menschen doch beschützen. Das ist doch der Sinn der Menschlichkeit. Wir sollen uns doch um andere kümmern. Wir können nicht …« Ich schlucke die Worte herunter und versuche, meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. »Ich kann sie das nicht tun lassen«, sage ich, heiße Tränen fließen mir über die Wangen. »Wenn es nun nicht funktioniert? Dann ist sie weg.«
Elias zieht mich an sich. Er ist sicher, warm und stark.
»Ist das denn alles?«, frage ich ihn. Ich bin diese Mühen so leid. Warum soll ich versuchen zu überleben, wenn es den Anschein hat, dass es völlig sinnlos ist? Wenn alle, die ich liebe, sterben oder sich verändern und ich allein zurückbleibe. »Geht es darum im Leben? Um das Warten auf den Tod? Darum, ihn zu suchen? Ihn zu sich einzuladen?«
»Nein«, sagt er. Seine Stimme ist nur ein Flüstern an meiner Wange. »Das tut es nicht.«
»Was dann?« Ich brauche einen Grund zum Weiterkämpfen – einen Grund, weiter voranzugehen, obwohl es so schwer ist, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass ich es kann.
»Das hier ist das Leben«, sagt er und drückt seine Lippen auf meinen Mund.
Sein Kuss ist warm. Er ist lebendiger als alles, was mir je begegnet ist. Er ist Hitze, Druck, Verlangen und Begehren. Seine Finger verfangen sich in meinem Zopf, ich lege die Hände auf seinen Rücken und spüre bei dieser Berührung die Spannung in seinen Schultern. Funken explodieren in meinem Kopf, und in diesem Moment verstehe ich, was er meint, wenn er sagt, das hier sei das Leben.
Wenn ich für immer hierbleiben könnte, genau so, nur wir beide eng umschlungen in der Dunkelheit, dann würde ich es tun.
Elias löst sich als Erster. Ich will mich wieder an ihn lehnen, aber er macht einen Schritt zurück, und meine Lippen streifen nur die Hitze in der Luft. Überall, wo er mich berührt hat, kribbelt meine Haut. Benommen lege ich die Finger an die Lippen. Ich will mehr. Zum ersten Mal bin ich zufrieden damit, wer ich bin, wo ich bin. Ich will die Zeit nicht zurückdrehen, denn diesen Augenblick will ich nicht auslöschen.
»Du weißt ja nicht, wie oft ich dich Abby oder Abigail rufen wollte«, sagt er. Seine Stimme ist ganz heiser vor Sehnsucht. »Und wie oft ich Annah angeschaut habe, als wir heranwuchsen, und an dich gedacht habe.«
Bei seinen Worten laufen mir kalte Schauer über den Rücken. Mir kommt ein schmerzlicher Gedanke. »Hast du … denkst du an Annah, wenn du mich ansiehst?«
Sein Blick bekommt etwas Zurückhaltendes. »Ich denke immerzu an sie«, sagt er. »Ich habe so viele Monate damit verbracht, von Stadt zu Stadt, von einer Siedlung zur anderen zu gehen und nach ihr zu suchen.«
»Bin ich nur ein Ersatz für sie?« Ich denke an all das, was er für Annah getan hat, all das, was er durchgemacht hat, an seine Schuldgefühle. Ich würde es ihm nicht zum Vorwurf machen, dass er an sie denkt, wenn er mich ansieht. Aber er
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