Das Meer Der Tausend Seelen
in einer Welt, die vom Tod überrannt wird?
Meine Mutter reibt mir mit dem Daumen die Schläfe, streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr, drückt mir den Zopf flach auf die Schulter. Ihre Hände zittern.
»Wir sollten uns aufmachen«, sagt Harry und stellt sich neben sie. Aber meine Mutter sieht mich einfach weiter an. Als wolle sie mir alles sagen, was ich in diesem Augenblick wissen und begreifen muss – und wo ich all das in meinem Leben unterbringen soll.
Dann nimmt Harry sanft die Hand meiner Mutter und führt sie an seine Lippen. Ihre Mundwinkel zucken, die starren Schultern entspannen sich.
Sie dreht sich zu ihm um. »Das Dorf«, sagt sie. »Der Durchbruch. Ich kann dich nicht wieder zwingen, es zu verlassen«, flüstert sie, dabei legt sie die Hand auf seine Wange. Gäbe es ein Geräusch, wenn jemand zerbricht, dann würde es so klingen. »Was haben wir beim ersten Mal doch alles verloren …« Ihre Stimme zittert. »Ich weiß nicht, ob ich den Pfad noch mal überlebe. Weiß nicht …«
Hinter uns schwillt das Stöhnen der Mudo an, durchsetzt von den Rufen der Männer. Ich will mich abwenden. Es ist meine Schuld, dass es so weit gekommen ist. Ich bin der Grund dafür, dass die Rekruter hier sind … warum Harry alles verlassen muss, was ihm vertraut ist. Ich schlucke den bitteren Selbsthass herunter und begreife, welche Kreise meine Taten gezogen haben.
»Aber dieses Mal wissen wir, dass es da draußen mehr gibt, Mary«, sagt Harry. Er streichelt ihre Hand.
»Manchmal muss man die Vorstellung von etwas Größerem verfolgen.«
Sie lächelt und atmet durch.
»Wir müssen gehen.« Sie schließt die Augen und nickt – und ich schaue weg.
Elias führt uns den Pfad hinunter vom Dorf weg. Ich gehe langsam hinter den anderen her, dabei schaue ich mich nur einmal um. Die Mudo schlagen auf das Tor ein, das matte Schwarz des niedergebrannten Münsters hebt sich vom dunklen Nachthimmel ab, die Häuser stehen schon ewig verlassen da.
Dieses Dorf war schon lange vor unserer Ankunft gestorben.
Wir stapfen durch das Morgengrauen, durch die Schwüle des Nachmittags und in den Abend hinein. Schatten blühen unter unseren Augen, unsere Füße schleifen schleppend durch den staubigen roten Lehm. Odys rennt vor und kehrt wieder um, er hält die Nase in die Luft und den Schwanz tief. Der Pfad windet und gabelt sich, und jedes Mal, wenn wir uns für eine Richtung entscheiden, frage ich mich, wo Catcher sein mag. Ob er uns finden wird, ob die Rekruter sich die Mühe machen werden, sich einen Weg durchs Dorf zu bahnen, um uns zu verfolgen?
Dass sie ihn gefangen haben könnten, dass er verletzt sein könnte, blende ich aus.
Bei jedem Schritt spüre ich das Gewicht des Buches, das ich in meinem Rucksack versteckt habe. Ich denke daran, es hervorzuholen und meiner Mutter zu geben, aber irgendetwas hält mich zurück. Ich will es für mich haben. Sie sagt, die Geschichte des Dorfes sei darin enthalten, und die will ich wissen. Denn es ist ebenso meine Geschichte wie ihre.
Als das Licht schwindet und Entfernungen nicht mehr abzuschätzen sind, müssen wir haltmachen. Der Pfad ist holprig, voller Wurzeln und Steine, und es ist zu schwer voranzukommen, unsere Schritte werden zu unbeholfen und gefährlich. Wir stoßen auf eine Stelle zwischen drei Toren, wo der Pfad weiter wird.
Mit der Ausrede, die Rekruter, wenn sie uns denn folgen, mit einer falschen Spur von uns ablenken zu wollen, gehe ich einen der Pfade weiter bis zu einer Biegung, hinter der ich vor den anderen verborgen bin. Ich setze mich auf einen Stein und hole die Überreste des Buches aus meinem Rucksack.
Der Einband ist ziemlich mitgenommen, was vielleicht früher einmal Risse waren, ist jetzt beinahe zu Staub zerfallen. Die Seiten sind gelb und dünn und wellen sich in der feuchten Luft. Sie sind nummeriert, vorne ist die Bindung noch intakt, die Reihenfolge der Seiten stimmt. Aber es ist klar, dass Hunderte von Seiten fehlen, die Handvoll hineingestopfter loser Blätter ist völlig durcheinander.
Ich halte die erste Seite ins letzte Tageslicht: »Am Anfang«, lese ich laut vor, »haben wir nicht begriffen, welches Ausmaß es hatte …«
Auf den Rändern der Seiten wurde die Dorfchronik festgehalten, ein Tagebuch der Rückkehr. Das ist die Geschichte von allem. Als wir heranwuchsen, hat man uns die Geschichte der Rückkehr erzählt – wie ein Land das andere beschuldigte, wie jedes Lager seine eigene Theorie über Ort und Ursprung der Ansteckung hatte.
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