Das Meer Der Tausend Seelen
gesucht, dabei musste ich es in mir selbst finden.
Jeden Augenblick, an den ich mich erinnere, habe ich damit verbracht, Angst zu haben: vor dem Wald, davor, die Regeln zu brechen, vor der Welt auf der anderen Seite der Barriere. Ich habe mich vor dem Leben gefürchtet. Für mich war immer alles schwarz oder weiß, lebendig oder tot, sicher oder brutal.
Aber wie soll ich dann eine Erklärung für Catcher finden, der immer angesteckt bleiben wird? Oder für Elias, der sowohl ein Souler als auch ein Rekruter ist? Dafür, dass ich im Wald geboren, aber außerhalb des Waldes aufgewachsen bin? Ich hätte nie vom Leuchtturm weggehen können, aber was für ein Leben wäre das gewesen?
Das Leben besteht aus Risiken. Man nimmt die Vergangenheit zur Kenntnis, schaut aber nach vorn. Leben bedeutet, Fehler zu riskieren, aber zu glauben, dass wir alle Vergebung verdient haben.
Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht, richte mich auf und schaue meine Mutter an. Sie ist in vielerlei Hinsicht eine Fremde für mich. Dieses Dorf zu sehen, zu sehen, wo sie aufgewachsen ist, wie sie gelebt hat, führt mir nur noch deutlicher vor Augen, wie wenig ich von ihr weiß.
»Bist du glücklich?«, frage ich sie.
»Gabrielle.« Sie nimmt meine Hände und lächelt. »So ist das Leben.« Sie zuckt mit den Schultern und schaut mich an. »Man trifft die Wahl, entweder man lebt es oder man lebt es nicht.«
Am liebsten möchte ich über die Schlichtheit ihrer Worte lachen. Doch ich nehme sie in mich auf. Es ist, als hätte ich auf die Erlaubnis gewartet, mein Leben leben zu dürfen … und sie hat sie mir gegeben.
Gerade als ich meine Mutter in die Arme nehmen und ihr dafür danken will, alles gesagt zu haben, was ich hören musste, kommt Elias in den Innenhof gerannt. Keuchend sagt er: »Catcher ist aus dem Wald zurück. Er sagt, die Rekruter sind näher dran, als er gedacht hat. Sie können jeden Augenblick im Dorf sein. Er reißt jetzt die Zäune ein – wir müssen sofort weg!«
39
I ch springe auf, die Ruhe ist dahin. Schon höre ich das Stöhnen der Mudo durch die Nacht heranschleichen. Ich fange an, Vorräte zusammenzuraffen, mir schwirrt der Kopf, als ich versuche an alles zu denken, was wir brauchen werden.
Odys kommt mit gesträubtem Fell und gefletschten Zähnen in den Innenhof gerannt. Er läuft knurrend hin und her, dann fängt er an zu bellen. Ich schaue immer wieder in die Nacht hinaus und frage mich, ob er vielleicht irgendetwas sieht, das ich nicht sehen kann, irgendetwas hört, das ich nicht höre. Ich halte den Atem an und warte.
Und da sehe ich sie, sie streichen um die Überreste des Münsters herum, sie schlurfen durch die Dunkelheit auf uns zu.
»Harry«, haucht meine Mutter und rennt zurück ins Haus.
Mir stockt der Atem. Elias flucht und packt meine Hand. Er wirft sich einen Beutel über die Schulter und drückt mir meinen kleinen Rucksack in die Arme. Ich lasse mich von ihm durch das Dorf ziehen, wir meiden die Schatten und lauschen auf das Stöhnen. In der Ferne höre ich Männer rufen, aber ich kann nur rennen, sonst nichts. Und so folge ich Elias, der auf ein Tor auf der anderen Seite des Dorfes zuhält, das ich bisher nicht gesehen hatte.
»Meine Mutter!«, rufe ich ihm zu und will stehen bleiben, aber er lässt mich nicht los.
»Sie schafft das schon«, brüllt er zurück. Ich stolpere, laufe aber weiter hinter ihm her.
Wir rennen durch alte Felder, die jetzt von Unkraut überwuchert sind. Ranken winden sich um vereinzelte Maisstängel, die im Vorbeilaufen meine Arme peitschen. Vor meinen Augen verschwimmt alles in der Dunkelheit, ich kann nur noch einen Fuß vor den anderen setzen. Unser Atem und das Geräusch unserer Schritte auf dem Boden werden von dem Pflanzendickicht gedämpft. Die Mudo hinter uns – oder einen Breaker – würden wir vielleicht nicht mal kommen hören. Das macht mir Angst.
Immer wieder schaue ich über die Schulter zurück, ich warte. Ich habe schreckliche Angst, beim nächsten Schritt in die Arme eines geifernden Mudo zu geraten, doch ich hoffe, meine Mutter hinter mir laufen zu sehen. Aber da ist nichts, nur Schatten folgen uns auf unserem Weg am Zaun entlang zum anderen Tor.
Elias nestelt am Riegel. Der Rost macht es nahezu unmöglich, ihn aufzuschieben. Mein Atem rauscht in den Ohren. Die Nacht ist zu leise, zu leer, bis die Mudo draußen im Wald unsere Anwesenheit spüren, sich erheben und auf uns zu schlurfen. Sie werfen sich gegen den alten Maschendraht und strecken
Weitere Kostenlose Bücher