Das Meer Der Tausend Seelen
und schaue ihn an, sehe das Grausame in seinem Gesichtsausdruck, den Schmerz, der sich in seiner Körperhaltung spiegelt. Noch immer sickert die Sonne über den Hang, sie strahlt ihn an und bringt sein Haar zum Leuchten. Er streckt die Hand aus, und ganz kurz ist wieder etwas vom alten Catcher da, von dem, der noch immer in ihm steckt. Dem, der nie wieder ganz derselbe sein wird.
»Du könntest abhauen, weißt du«, sage ich. »Rutsch einfach das letzte Stück den Berg runter und geh in die Mudo-Menge. Die finden dich nie.«
»Nein«, erwidert er nur. Mehr hat er nicht hinzuzufügen, deshalb nehme ich die schweißnasse Hand, die er mir reicht, und lasse mir beim Abstieg helfen.
Wir klettern weiter, unser nicht ganz kontrollierter Sturz wird von den Zäunen abgefangen, die sich über der Öffnung zum Pfad verfangen haben. Wir klettern gerade auf die sichere andere Seite, als ich Rufe von oben höre. Meine Mutter wedelt an der Abbruchkante mit den Armen, ihr Mund bewegt sich.
Genau da kommt hinter ihr ein Rekruter angerannt, der sie packt. Mein Körper erstarrt, als ich sie so nah am Abgrund kämpfen sehe. Er will sie zurückreißen, aber sie ruft mir noch etwas zu, befreit eine Hand und zeigt hinab ins Tal, als wolle sie uns etwas mitteilen. Doch ehe ich es verstehen kann, hält der Rekruter sie schon wieder fest.
Wie in Zeitlupe kommt ein brüllender schwarzer Fleck von der Seite heran: Odys. Er gerät dem Rekruter zwischen die Beine, der kommt zu Fall, und ehe ich begriffen habe, was geschieht, stürzt der Mann auch schon über die Kante. Sein Körper segelt direkt auf uns zu, er reckt die Arme, um sich abzufangen und schlägt im Fall gegen einen Baum.
Meine Mutter rührt sich nicht von der Stelle, sie starrt den Hang hinunter, dann treffen sich unsere Blicke trotz der Entfernung.
»Lauf!« Catcher zerrt an meinem Arm. »Wir müssen laufen!« Schon rutschen weitere Rekruter hinter uns den Berg hinunter, und Catcher schleppt mich weg, bis ich sie und meine Mutter schließlich nicht mehr sehen kann. Wir hasten den steilen Pfad entlang, fallen mehr, als dass wir rennen. Zweige schlagen mir auf Arme und Gesicht, ich stolpere über Baumwurzeln und habe Mühe, Catcher durch den Wald zu folgen.
Hier unter dem Blätterdach herrscht immer noch Morgendämmerung, und es ist schwer, Entfernungen abzuschätzen. Als ich mit den Zehen an einem Stein hängen bleibe und der Länge nach hinschlage, rennt Catcher zu mir zurück. Doch ich rappele mich bereits wieder auf, über meinen Arm zieht sich eine lange Schramme, Blut läuft mir warm bis an die Fingerspitzen.
Erst will er mir die Hand reichen und mir aufhelfen, doch er zögert, legt den Kopf schräg, als würde er Geräuschen in der Ferne lauschen. Ich schaue mich um und frage mich, ob er womöglich die Rekruter hinter uns hört. Doch dann kitzelt ein anderes Geräusch meine Ohren.
Es klingt wie ein Fluss. Oder ein Wasserfall.
Langsam geht Catcher den Pfad entlang, bei jedem Schritt zögernd. Ich folge ihm.
Schließlich geht es nicht weiter, wir stehen vor einer hohen Mauer aus staubigen roten Ziegeln. Sie zieht sich zu beiden Seiten bis in die Ferne an der kurvigen Straße entlang, auf die ich vorher schon von der anderen Seite her einen Blick geworfen hatte.
Wenn wir weiter vorankommen wollen, bleibt uns nichts anderes übrig als zu klettern.
Mit angehaltenem Atem lasse ich die Finger an den Mauersteinen entlanggleiten, suche nach Ritzen und Vorsprüngen. Es ist schwierig, Zwischenräume zu finden, in die ich die Zehen klemmen kann, aber schließlich schaffe ich es, nach oben zu gelangen, ein Bein über die Mauer zu schieben und mich rittlings daraufzusetzen.
Hier oben ist das Wasser lauter zu hören, es ist ein Rauschen und Tosen. Catcher klettert neben mich, wir halten uns an der Mauer fest, genau wie in der ersten Nacht, als wir über die Barriere geklettert sind.
Die breite Straße auf der anderen Seite ist überhaupt nicht so wie in den alten Geschichten von wunderbaren langen Landstraßen mit blanken Autos, die ich als Kind gehört habe. Auf dieser Straße stehen überall rostige Haufen aus verbeultem Metall herum, die wie in der Sonne dösende ausgestorbene Lebewesen wirken. Nur fangen die meisten davon an zu schwanken, weil die Mudo darin gegen die Glasscheiben schlagen, weil sie raus und über mich herfallen wollen.
Die Straße zieht sich in einem weiten Bogen zu einer breiten Brücke hin, die sich über ein Tal erstreckt. Dahinter stößt sie auf eine
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