Das Meer Der Tausend Seelen
eine Kluft aufgetan, die mir zeigt, wie viel von ihr ich nicht kenne.
Ich habe sie immer als meine Mutter gesehen und nie als eine Frau, die genauso ein Mädchen war wie ich.
»Du passt auf dich auf«, sagt sie schließlich. »Du liebst. Du überlebst. Du lachst und weinst und kämpfst, manchmal scheiterst du, und manchmal gelingt dir etwas. Du strengst dich an.« Sie lächelt. In ihrer Stimme sind Tränen. »Und du denkst immer daran, dass deine Mutter dich liebt.«
Ich lege meine Hände auf ihre. »Wirst du zurechtkommen?«, frage ich sie, denn ich habe Angst, sie vielleicht nicht wiederzusehen. Vielleicht hätte ich mich irgendwie mehr um sie kümmern müssen. Das macht mir Sorgen. »Und wenn du Schwierigkeiten bekommst, weil du weggegangen bist? Über die Zäune?«
Sie streicht mir mit dem Daumen über die Wange und wischt meine Tränen weg. »Alles wird gut, Gabrielle. Mach dir um mich keine Sorgen – es ist meine Aufgabe, mir Sorgen um dich zu machen, nicht umgekehrt. Endlich kann ich Harry das Meer zeigen«, sagt sie. »Ich kümmere mich um Elias. Wir finden dich wieder. So leicht lasse ich mein kleines Mädchen nicht los.«
Die Hoffnung und die Endgültigkeit in ihren Worten brechen mir das Herz. Wir schauen uns an, keine will die Erste sein, die sich abwendet – die weggeht. »Ich habe etwas für dich.« Noch versuche ich, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Ich greife in meinen Rucksack und streiche am verknickten Einband des Buches entlang, das sie bei der Flucht aus dem Dorf fallen gelassen hatte. Ich hole es heraus, das Papier ist zerknüllt und eingerissen, und gebe es ihr.
Sie schlägt die Hand auf den Mund, und ihre Augen weiten sich vor Staunen.
»Ich konnte nicht alles retten«, sage ich. »Aber einige der Seiten habe ich aufsammeln können.«
Mit zitternden Händen greift sie danach. Sie hält das Buch, streicht mit den Fingern über die verblassten Worte auf dem Buchdeckel. »Das ist alles, von der Rückkehr an«, antwortet sie. »Das ist die Geschichte des Dorfes. Von allen, die ich kannte.«
»Ich weiß«, flüstere ich. »Ich habe einen Teil gelesen. Ich …« Ich blicke zu Boden. »Ich musste es wissen.«
Sie sieht mich an. »Danke«, flüstert sie.
In der Ferne höre ich die Rekruter, sie kommen näher. Auf der anderen Seite des Tales steigt die Sonne über den Berg, die uns zum Aufbruch drängt.
Catcher steht an der Stelle, an der Elias abgestürzt ist. Odys knurrt, wenn er sich uns nähern will. »Ich glaube, nur dieses Stück hier oben ist weggespült worden. Ich kann sehen, wo der Pfad wieder anfängt«, sagt er. »Ein Stück bergab. Ich glaube, bis dahin schaffen wir es.«
Ich drehe mich wieder zu Elias um, er hat die Augen vor Schmerz zugekniffen, Schweiß steht auf seiner Stirn. Mit den Fingerspitzen streiche ich über seine Lippen, über sein Gesicht – und er schaut mich mit einem sanften Lächeln an.
»Ich habe dich schon einmal wiedergefunden«, flüstert er. »Ich verspreche dir, ich finde dich noch mal. Wenn du aus dem Wald herauskommst, geh in die Dunkle Stadt.« Er zieht die lederne Kordel mit dem auf die Metallscheibe geprägten Siegel der Rekruter unter dem Hemd hervor. Zum ersten Mal fallen mir die winzigen, auf die Rückseite eingeritzten Zahlen auf. Er hängt mir das Amulett um den Hals, wo es sich an Ciras Superheld-Halskette reibt.
»Ich bin Bürger, das sollte dir also Eintritt verschaffen«, sagt er. »Ich finde dich, das verspreche ich dir.«
Ich schüttele den Kopf. Die Welt ist zu groß, man geht zu leicht verloren. Aber er legt mir die Hand auf die Wange. »Ich lasse dich nicht los, Gabry«, gelobt er. »Ich verlasse dich nicht. Ich gehe zurück nach Vista, mache, was nötig ist, um mich wieder zu erholen, und dann komme ich zu dir. Versprochen. Warte einfach in der Dunklen Stadt auf mich.«
Elias nimmt meine Hand, bevor ich aufstehen kann. »Ich liebe dich, Gabrielle«, sagt er mit entschlossener Miene. »Ich werde dich nicht wieder verlieren.« In seinen Augen liegt unser Versprechen, zusammen zu sein. Und in diesem Augenblick glaube ich daran.
Dann ist Catcher neben mir. Er zieht mich hoch, aber ich wehre mich, bis ich wieder an Elias’ Seite bin, mit dem Mund an seinem Ohr. Ich will ihm sagen, dass ich es nicht ertragen kann, ihn zu verlassen, aber ich weiß nicht, wie. Stattdessen sage ich nur: »Ich liebe dich.« Er schließt die Augen, und ein Lächeln gleitet über seine Lippen.
»Geh«, erwidert er.
Und ich nicke und gehe
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