Das Meer Der Tausend Seelen
rückwärts von ihm weg, bis ich Catcher neben mir spüre. Das Schluchzen versuche ich zu unterdrücken.
»Er wird schon wieder«, raunt Catcher mir zu. Ich will ihm sagen, dass ich das weiß, doch ich kann nicht.
Der Tag hat sich immer noch nicht ganz durchgekämpft, zwar glüht der Himmel am Horizont, doch das kann den Nebel nicht auflösen, der noch immer über dem Tal hängt. Wir können so gerade eben die Überreste des Pfades unten am Hang ausmachen. Es sieht aus, als wäre ein Riese mit der Hand am Berg entlanggefahren und hätte dabei die Erde aufgewühlt, Bäume entwurzelt, Büsche zerdrückt, mit Matsch um sich geworfen und die Zäune zerknickt.
»Ich glaube, da unten ist der Pfad noch intakt«, sagt Catcher. Ich nicke, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll. Unter uns scharen sich Mudo, sie stolpern über Baumwurzeln, rutschen über Geröll, stürzen an den steilsten Stellen ab und fallen in die Dunkelheit.
Ich schaue zurück zu dem am Boden liegenden Elias, neben dem meine Mutter kniet. Er lässt den Kopf auf die Seite sinken, die Augen einen Spaltbreit geöffnet. Sein Gesicht ist weiß, seine Muskeln vom Schmerz verkrampft. Ich will zu ihm zurückrennen, meine Hand in seine legen und an seiner Seite jede erdenkliche Strafe annehmen.
»Geh«, gibt er mir zu verstehen.
Ich versuche das Brennen in meiner Brust zu ersticken, drehe mich um, rutsche über die Abbruchkante am Berghang hinunter.
Catcher geht voran, überprüft, wie stark die Äste sind, an denen man sich festhalten kann, weist mich auf Baumwurzeln hin, in denen meine Füße hängen bleiben können. Trotzdem rutsche ich mehr, als ich klettere, der Sand ist lose, und die Steine brechen immer dann weg, wenn ich glaube, festen Halt gefunden zu haben.
Jedes Mal, wenn ich mich umschauen will, falle ich hin, meine Ellenbogen schrammen über den Boden, Brombeerranken winden sich um meine Beine. Bald keuchen Catcher und ich vor Anstrengung, und obwohl die Sonne noch nicht hoch am Himmel steht, sind wir schweißgebadet.
»Du schaffst das, Gabry«, sagt er mir jedes Mal, wenn ich hinter ihm herstolpere. Ich reagiere nicht, sondern konzentriere mich darauf, mich irgendwo festzuhalten, um nicht abzustürzen.
An der steilsten Stelle rutscht er zuerst nach unten und fängt mich auf, als ich hinter ihm her falle. Wir können einen schmalen Vorsprung erreichen, und ich schaue zur Bruchkante hoch, die etwa zwanzig Meter über uns liegt. Dort steht meine Mutter, die Hände in die Hüften gestemmt. Ihr Gesicht ist verkniffen vor Sorge, und sie schaut immerzu über ihre Schulter. Wie weit sich die Rekruter wohl genähert haben? Ob unser Vorsprung groß genug ist, um ihnen zu entkommen?
Jetzt ist es so hell, dass die Blätter an den Bäumen glänzen und glitzern. Die Sonne strahlt am Himmel. Nicht allzu weit unter uns geht der Pfad weiter, mit intakten Zäunen, die sich durch die Bäume winden und am Berg entlang, wo sie allem Anschein nach in die Überreste einer Straße münden.
Aber zwischen uns und dem Pfad liegt ein kurzer ebener Streifen Land, auf dem es vor Mudo wimmelt, die alle ihre Arme nach mir ausstrecken.
Mein Herz rast, als ich die Hand um einen dünnen Baumstamm klammere, um mich festzuhalten. Catcher starrt nach unten, wo die Fingerspitzen der Mudo an der Kante des Vorsprungs entlangstreifen. Ich trete ihre Hände weg, aber Catcher springt, mitten hinein in die Menge. Das Gesicht an meinen Arm gepresst, unterdrücke ich einen Schrei, denn ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass es so leicht für ihn ist, zwischen den Toten herumzulaufen.
Körper fallen übereinander, wo er landet, und dann ist er auf den Beinen und schwingt die Arme. Er packt die Mudo, wo er sie zu fassen bekommt, und schubst sie den Hang hinunter. Sie bemerken ihn anscheinend nicht mal, sind ganz auf mich konzentriert und wollen mich packen.
Schnaufend schlägt Catcher die Mudo weg, ihre Körper segeln ins Tal wie gebrochene Puppen. Beine und Arme verheddern sich, Rümpfe prallen zitternd gegen Baumstämme, alles von Stöhnen begleitet. Catcher ist unermüdlich, er zerrt und wirft und schubst, bis es zwischen mir und den Zäunen keine Mudo mehr gibt.
Als er fertig ist, steht er mit bebenden Schultern und geballten Fäusten da und schaut zu mir hoch. In diesem kurzen Augenblick sehe ich, dass er nicht mehr der ist, den ich gekannt habe. Es ist nichts mehr übrig von dem Jungen, mit dem ich aufgewachsen bin.
46
I ch stehe auf meinem Felsvorsprung
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