Das Meer Der Tausend Seelen
die Brust, in mir explodiert etwas Gleißendes. Ich hatte einmal eine andere Mutter. Ich gehörte einmal zu jemand anderem. Eine andere Frau hat mich getröstet. Eine andere Mutter hat mich in den Armen gehalten, wenn ich geweint und gelacht habe.
Ich schließe die Augen. Ich versuche mich an sie zu erinnern und an ein anderes Leben, eine andere Stimme, einen anderen Geruch. Aber ich sehe nichts.
Ich kann mich jetzt an nichts mehr erinnern. Nur ein Gedanke fängt an, in mir zu wachsen, er drängt sich an Verwirrung und Wut vorbei. »Wer bin ich?«
Sie legt mir die Hand auf die Füße, die Beine, kriecht heran, um mir die Arme um die Schultern zu legen. Ich will sie mir von der Haut reißen. »Du bist meine Tochter. Du bist Gabrielle.«
»Aber ich war einmal jemand anders!« Ich brülle die Worte, sie muss begreifen, dass sie mir alles genommen hat.
»Nein. Du warst immer mein kleines Mädchen.« Ich kann ihre Tränen in ihrer zitternden Stimme hören. »So hat meine Mutter mich immer genannt. Ihr kleines Mädchen. Das hat sie zu mir gesagt, als sie …« Ihre Stimme geht in den Wellen unter.
Ich presse die Handflächen auf die Augen, Unglaube, Wut und Verwirrung toben in mir. »Davor war ich das kleine Mädchen von jemand anderem«, sage ich. Jeder Muskel in meinem Körper spannt sich an. Ich rücke von ihr ab und stehe auf, der nasse Stoff meines Rocks klebt mir an den Beinen. In einem engen Kreis stapfe ich durchs Wasser, trete den salzigen Schaum und will die Welt Stück für Stück zerreißen.
»Du warst allein im Wald«, sagt sie. »Da war sonst niemand. Ich habe nachgesehen. Du warst am Verhungern und kaum noch bei Bewusstsein. Du warst erst vier oder fünf Jahre alt! Und nachdem ich dich hierhergebracht hatte, hast du einen Monat lang nicht gesprochen, und nicht mal dann war ich sicher, ob du überleben würdest. Du konntest mir ja nicht mal richtig deinen Namen sagen!«
Ich bleibe stehen und starre sie verstört an. »Mein Name?« Ich habe nichts aus meinem Leben davor, nicht einmal etwas so Elementares wie meinen Namen? Ich atme tief ein, doch ich habe das Gefühl, dass meine Lungen die Luft nicht fassen können.
»Gabrielle … ist nicht mein Name?«
Der Mond kriecht gerade erst über den Horizont, aber trotzdem liegt sein schwacher Widerschein auf ihrem Gesicht. Sie wirkt gleichzeitig jung und alt, und ich frage mich, wie ich je glauben konnte, dass ich ihr leibliches Kind bin. Meine Haare sind blond und von der Sommersonne fast weiß gebleicht, ihre hingegen schwarz und jetzt im Alter von grauen Strähnen durchzogen. Ihre Haut ist blass, meine bräunlich, ihre Augen sind dunkel, während meine hell sind.
Aber welcher Jugendliche zweifelt denn daran, das Kind seiner eigenen Mutter zu sein? Wie hätte ich darauf kommen sollen, dass meine Mutter mir verschwiegen hat, wer ich bin?
Sie steht auf und stellt sich vor mich. »Wenn ich dich gefragt habe, hast du etwas gesagt, aber ich konnte es nicht verstehen«, flüstert sie. »Du wolltest mir nichts erzählen. Ich hatte keine Wahl. Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte.«
»Warum Gabrielle?«, frage ich. Das ist das Einzige, auf das ich mich konzentrieren kann, während ich versuche, jede Erinnerung meines Lebens neu zu ordnen, den Erzählungen meiner Mutter auf den Zahn zu fühlen.
Meine Mutter tritt zurück, ihr Mund ist ein wenig verzerrt, als ob die Frage sie überraschen würde. »Sie war ein Mädchen, das ich gekannt habe, als ich in deinem Alter war«, sagt sie langsam und leise, als ob sie diese Brücke zwischen uns wieder aufbauen könnte. »Sie war aus dem Wald wie du, aber keiner wusste, woher sie kam. Und ich war die Einzige, die wusste, dass sie aus dem Wald war.« Tränen tropfen ihr aus den Augen. »Wegen ihr bin ich aus meinem Dorf geflüchtet. Wegen ihr habe ich das Meer gefunden.
Hör mir zu, Gabrielle, es tut mir leid.« Sie streckt die Hand nach mir aus, aber ich entziehe mich. »Bitte«, sagt sie.
»Nein!« Ich schüttele den Kopf. Zu viel um mich herum zerfällt. Alles geschieht zu schnell: Catchers Biss, Ciras Strafeinsatz bei den Rekrutern und jetzt das. Alles, was ich je gekannt habe, hat sich unter mir verschoben, und ich weiß nicht mal mehr, wie ich gerade stehen soll. »Du hättest es mir sagen sollen!«, schreie ich sie an. »Ich hatte das Recht, es zu wissen!«
»Ich hielt es für das Beste. Ich dachte …« Sie schluckt. »Ich hatte alles auf der Welt verloren, und ich dachte, Gott würde mir etwas geben,
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