Das Meer Der Tausend Seelen
das ich behalten konnte. Ich dachte … ich dachte, er würde mir noch mal die Chance geben zu lieben.«
»Du warst egoistisch!«, brülle ich, die Worte schmerzen in meiner vom Schluchzen wunden Kehle. »Ich gehörte dir nicht. Ich war die Tochter einer anderen.«
»Du wärst gestorben«, sagt sie flehend und streckt mir die Hand hin. »Ich habe dich gerettet.«
Ich presse die Fäuste an meinen Kopf und will kreischen, schreien und brüllen. Sie hat recht, das weiß ich. Etwas Furchtbares wäre passiert, wenn ich auf diesem Pfad zurückgelassen worden wäre. Ich hätte gebissen und infiziert werden können, wäre irgendwann verhungert. Aber das spielt jetzt keine Rolle für mich. Was zählt, ist, dass sie mir bis jetzt nie etwas davon erzählt hat – und dass sie es wahrscheinlich nie getan hätte.
Wichtig ist, dass sie mich mein ganzes Leben lang belogen hat. Alles, was ich je über mich gewusst oder gedacht habe, ist verkehrt – gefälscht. Und jetzt gerade weiß ich nicht, worauf ich mich verlassen kann, deshalb habe ich das Gefühl, ausgesetzt worden zu sein – vom Ufer weggestoßen zu sein, um allein mit den Wellen zu kämpfen.
Ich weiß nicht, wie ich ihr das begreiflich machen kann. »Wie kannst du mir sagen, dass ich das alles loslassen soll? Als ob die Vergangenheit unwichtig wäre?« Mit zitterndem Finger zeige ich auf sie. »Du willst einfach nur vergessen, was vorher gewesen ist, aber so funktioniert das nicht. Ich kann die Menschen nicht vergessen, die ich geliebt habe und die mich liebten. Vielleicht geht es dir gut damit, wenn du dir nimmst, was du brauchst, und alles andere vergisst. Wenn du die Menschen, die du liebst, zum Sterben draußen im Wald zurücklässt. Aber ich bin nicht so. Mein Leben ist nicht so.« Ich keuche.
Die Wangen meiner Mutter leuchten dunkelrot in ihrem weißen Gesicht, als hätte ich sie geohrfeigt.
Ich schlucke. Ich bin zu weit gegangen. Habe die Kontrolle verloren und meine Gefühle mit mir durchgehen lassen.
Verzweifelt raufe ich mir die Haare. Ich weiß nicht, wie ich ihr klarmachen soll, wie grundlegend diese Information alles verändert, was mich betrifft und wie ich mich gekannt habe. Ich war immer Marys Tochter. Und ich muss ständig daran denken, wer ich in Catchers Gegenwart bin – er hat mir das Gefühl gegeben, irgendwie wichtig zu sein.
Das hat sie mir alles genommen. Die Hoffnung, dass ich mehr so sein könnte wie sie. Die Vorstellung, dass etwas von ihr in mir steckt.
Die Tatsache, dass ich ihr gehöre.
Mit erhobenen Händen gehe ich rückwärts, als könnte ich die Luft wegdrücken … und dann wäre sie verschwunden. »Ich weiß nicht, ob ich dir je vergeben kann«, sage ich.
»Gabrielle.« Ihre Stimme ist leise und ruhig, ihre Augen verengen sich.
»Nein«, sage ich kopfschüttelnd. »Die bin ich nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt noch Gabrielle sein will.«
»Es tut mir leid«, erwidert sie. »Ich liebe dich.«
Sie wartet darauf, dass ich ihr sage, dass ich sie auch liebe. Sie wartet darauf, dass ich ihr vergebe. Aber ich kann mich nur umdrehen und weglaufen, den Strand entlang. Ich habe meine Mutter bisher noch nie gehasst, und es fühlt sich an, als würde ein tiefes schwarzes Nichts mich von innen her zusammenfallen lassen.
Ich laufe weiter, bis ich die massige Barriere vor mir aufragen sehe. Lichter springen im Dunkeln daran entlang, die Wachen der Miliz im Einsatz. Meine Schultern heben und senken sich, während ich die Wand anstarre und wieder zu Atem komme. Das hier ist der Dreh- und Angelpunkt.
Hier hat alles angefangen. Wenn ich nicht darübergeklettert wäre, hätte ich Catcher nie geküsst. Ich hätte nicht erfahren, dass wir dasselbe füreinander empfinden. Er wäre nie gebissen worden. Ich hätte nie mit meiner Mutter über Liebe gesprochen, und sie hätte mir nie die Wahrheit gesagt.
Wenn es nicht durch Zufall geschehen wäre, hätte sie mir dann je davon erzählt?
Dem will ich nicht ins Auge sehen, will mich dem nicht stellen. Es ist zu viel, und es muss einfach aufhören. Ich muss wieder zu Atem kommen und mir überlegen, was ich tun soll.
Aber die Erde dreht sich weiter, die Wellen rauschen, der Scheinwerfer im Leuchtturm rotiert. Nichts hält an, nur weil ich finde, dass es das tun sollte. Nur weil ich nicht aus noch ein weiß.
Frustration wallt in mir auf. Wenn ich mich doch nur einfach hier im Sand zusammenrollen, mich in ein Schneckenhaus verkriechen und vergessen könnte. Wenn ich mir doch keine
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