Das Meer Der Tausend Seelen
Sorgen machen müsste.
Ich denke an meine Mutter, sie hat gesagt, das Leben sei nach dem Vergessen so viel einfacher. Aber wenn ich nur versuche, Catcher aus meinem Kopf zu verbannen, denke ich an ihn. Ich denke daran, wie rau sich sein Kinn an meinem Hals angefühlt hat. Ich denke daran, dass ich Cira versprochen habe, ihn zu finden.
Schritte kommen näher, ich schaue auf. Daniel und zwei andere Milizionäre gehen auf mich zu, sie halten ihre Laternen hoch, die Schatten auf ihre Wangen und Augen werfen. Ich sehe genau, in welchem Augenblick Daniel mich erkennt, er zieht die Augenbrauen in die Höhe, und seine Schritte werden unsicher. Er streckt mir seine Hand hin, die anderen Milizionäre verschwinden im Hintergrund.
»Gabry«, sagt er besorgt. Aber mein Name auf seinen Lippen ist eine Lüge – mein Name ist nichts mehr. Er gehört mir nicht, und ich stoße mich an der Barriere ab und renne den Strand hinunter.
»Gabry, warte!«, ruft Daniel mir hinterher, aber ich bleibe nicht stehen, und seine Stimme verhallt hinter mir – mit ihr mein Name.
Ich kämpfe mich durch den dicken Sand, meine Beine schmerzen vor Anstrengung, als ich am Leuchtturm ankomme. Meine Lungen brennen, die Muskeln zucken, aber meine Gedanken sind immer noch in Aufruhr. Ich schaue hoch. Licht schweift über den Himmel.
Dieser Ort war immer mein Zuhause. Und trotzdem weiß ich jetzt nicht mehr, was er nun noch für mich ist. Ich weiß ja nicht einmal, wer ich bin.
Alles wirkt so entrückt, so hoffnungslos, und was ich bewältigen muss, lastet zu schwer auf mir. In der Dunkelheit liegen die Überreste des Segelbootes meiner Mutter und erinnern mich an die Tage mit ihr draußen auf dem Wasser. Plötzlich wird alles klar, ich muss Catcher finden. Und das geht nur, wenn ich aufs Meer hinausfahre.
9
V om Strand aus beobachte ich, wie meine Mutter, die mittlerweile in den Leuchtturm zurückgekehrt ist, auf der Galerie herumläuft und in die Dunkelheit schaut.
Ich trommele mit den Fingern auf meine Schenkel und grabe vor Ungeduld die Zehen in den Sand, während ich darauf warte, dass sie weggeht, damit ich ihr Boot unbemerkt ins Wasser ziehen kann.
Ich denke an das universelle Gesetz der Schwerkraft – Wissen, das mir immer so nutzlos vorkam. An einem kurzen Wintertag hatte uns das Protektorat einen Lehrer in die Stadt geschickt, einen jungen Mann, der mit einem Leuchten in den Augen eintraf, das mit den Wochen matter wurde, in denen die Kälte uns bedrängte und es ununterbrochen schneite.
Alle Kinder der Stadt von sechs bis sechzehn waren zusammen in einem Klassenzimmer. Der Lehrer wollte den Unterricht für jeden von uns interessant machen. Die jüngeren Schüler ließ er Steine suchen, die Planeten repräsentieren sollten, während er versuchte, mit den älteren komplizierte mathematische Berechnungen durchzuführen.
Niemand glaubte ihm, als er den Begriff Masse erklärte, als er uns lehren wollte, was unsere Füße am Boden hielt. Einige der Eltern holten ihre Kinder sogar aus der Schule – ein zusätzliches Paar Hände zu Hause war wichtiger, als Naturwissenschaften zu lernen, für die wir niemals Verwendung haben würden.
Aber Cira blieb, weil sie ein Waisenkind war und Schulstunden den häuslichen Pflichten vorzog, und ich blieb, weil meine Mutter Bildung immer für wichtig gehalten hatte, besonders Naturwissenschaften. In ihrer Jugend hatte sie nie etwas darüber lernen können. Ich erinnere mich an die Verzweiflung im Gesicht des Lehrers, als er uns das alles zu erklären versuchte und uns beweisen wollte, dass die Erde, die wir kannten, eine gigantische Masse war, die im Weltraum kreiste.
Er besaß eine kleine Büchersammlung von vor der Rückkehr und zeigte uns Bilder, die wie Zeichnungen aussahen, und verblasste Fotos auf vergilbtem Papier von Welten in Welten in Welten.
Cira hielt das alles für einen Witz. Sie sah sich gern die Bilder an, versuchte aber gar nicht erst zu verstehen, was es damit auf sich hatte. Eines Tages hielt sie ihm ihre Superheld-Halskette hin und fragte ihn, wie es denn angehen konnte, dass Superhelden fliegen konnten, wenn die Schwerkraft doch immerzu wirkte. Der Lehrer hätte fast geweint, er wusste nicht, ob sie ihre Frage ernst meinte oder ihm nur einen Streich spielen wollte.
An Mittwinter verließ er uns ohne ein Wort, und das Protektorat schickte erst nach der Ernte im nächsten Jahr einen neuen Lehrer. Nach all dieser Zeit weiß ich immer noch nicht, was ich von der Schwerkraft halten
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