Das Meer Der Tausend Seelen
soll, von Masse und Rotation und Kraft.
Doch jetzt in diesem Augenblick, als ich am Meer stehe, geht mir auf, dass mein Körper mit den Planeten durchaus zu vergleichen ist: Das Zentrum hält alle anderen darum kreisenden Teile in ihrer Bahn. Entfernt man das Zentrum, dann kollidiert alles andere und driftet auseinander.
Meine Mutter schaut weiterhin auf den Wald, und mir kommt es immer noch so vor, als ob sich jedes Teil von mir über alle Grenzen hinaus ausdehnt. Geschieht ihr recht, wenn sie sich meinetwegen Sorgen macht, denke ich. Sie soll begreifen, wie es für meine andere Mutter gewesen sein muss.
Als sie schließlich von der Galerie verschwindet, schleiche ich mich ans Haus heran und ziehe das Boot von seinem Gestell. Es schrammt lautstark über den Sand, ich zucke zusammen und hoffe, meine Mutter hört das Geräusch im Tosen der Wellen nicht. Jedes Mal, wenn das Licht über den Himmel schwenkt, fürchte ich, dass es mich verrät.
Fünf Versuche brauche ich, bis mir wieder einfällt, wie man die morschen Leinen an Mast und Auslegern festmacht. Der Bug des kleinen Bootes ruht an der Wasserkante, und ich starre es mit den Händen auf den Hüften an. Meine Brust hebt und senkt sich heftig, nachdem ich es über den Strand gezerrt habe.
Mit dem Zeh stoße ich den Schiffsrumpf an und bemerke ein paar Risse, wo das Holz sich verworfen hat, aber offensichtliche Schäden gibt es nicht. Das Segel ist allerdings kaum noch brauchbar, es hat einen großen Riss in der Mitte, und ein paar der alten Flicken sind ziemlich fadenscheinig.
Ich könnte zurückgehen, die Treppe hochsteigen und in mein Bett schlüpfen. Ich könnte die Luft anhalten und hoffen, dass meine Mutter kommt und mir mit den Fingern durchs Haar fährt, so als hätte sich nichts geändert. Ich könnte alles vergessen, was meine Mutter mir vorhin erzählt hat. Ich könnte versuchen, alles zu vergessen, was letzte Nacht passiert ist – und es tief in mir vergraben. Ich könnte meiner Mutter vergeben, dass sie mir nicht die Wahrheit gesagt hat.
Aber sie ist nicht meine Mutter, fällt mir ein. Ich kneife die Augen zu. Eine andere als sie habe ich nicht gekannt, in jeder Beziehung ist sie eine Mutter für mich. Nur dass ich irgendwo, zu einer anderen Zeit, eine andere Mutter gehabt habe. Ich hatte eine andere Familie, von der ich nichts weiß.
Was ist ihr zugestoßen? Warum hat man mich allein im Wald zurückgelassen? Warum hat sie mich verlassen? Warum hat sie mich gehen lassen? Könnte sie es absichtlich getan haben?
Licht und Dunkel wirbeln um mich herum. Der Himmel über mir wirkt grenzenlos, es scheint, als würde nichts mich am Boden halten. Zu viele Fragen. Zu viele Möglichkeiten. Ich hole mir eine Sichel und schiebe das Boot ins Wasser, ich will vor all dem flüchten. Der Bootsrumpf schabt über den Sand, eine Welle klatscht ans Holz, ich werde mit Wasser bespritzt. Ich werfe die Waffe klappernd ins Boot, in ihrer Klinge spiegelt sich schwach der Mond am Himmel. Und dann schiebe ich das Boot, bis ich schenkeltief im Wasser bin, ehe ich hineinspringe und das Schot ergreife. Die alte Leine ist hoffentlich noch nicht so verrottet, dass sie dem Zug nicht standhält. Das Mondlicht zieht einen Streifen übers Wasser, der beinahe aussieht wie ein Pfad; ich starre ihn an und frage mich, was ich hier eigentlich mache. Werde ich es wirklich fertigbringen, die Regeln noch einmal zu brechen und mich der Welt jenseits der Barriere zu stellen?
Keuchend atme ich durch, zerre an der Leine, bis das Segel sich bläht und mich die Strömung schräg vom Strand wegzieht. Ich bilde mir ein, ich würde nur zum Spaß mit dem Boot durch die Wellen kreuzen, bilde mir ein, ich würde gar nicht weglaufen, Vista nicht hinter mir lassen.
Tropfen der Brandung klatschen mir ins Gesicht, als ich Fahrt aufnehme, um mich herum herrscht tiefe Dunkelheit. Wellen lauern, krachen ans Boot, bringen es ins Wanken. Schon sickert Wasser durch den Rumpf, das sich zu meinen Füßen sammelt.
Das Boot hüpft über die Wellen, die letzten Lichter von Vista blinken hinter mir, dann kreuze ich an den dunklen mächtigen Steinen des Hafendamms vorbei. Es war ein Fehler zu versuchen, die Barriere zu umsegeln. Ich schaffe das nicht. Ich kann die Regeln nicht noch einmal brechen. Also reiße ich die Pinne herum, ducke mich, als der Baum übers Boot schwenkt und drehe bei – nach Hause. Aber dann sehe ich meine Mutter auf der Galerie stehen. Jedes Mal, wenn das Licht sie streift, fällt ihr
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