Das Meer Der Tausend Seelen
Schatten auf den Wald. Der Wald, aus dem wir beide kommen.
Und da weiß ich, ich kann nicht zurück. Nicht jetzt gleich. Ich kann Catcher nicht so vergessen wie meine Mutter die Menschen, die sie liebte. Ich gebe der Pinne einen Stoß und lasse den Leuchtturm hinter mir, mit angehaltenem Atem treibe ich an der Barriere vorbei. Alles wirkt so friedlich, man kann so leicht vergessen, dass die Barriere der Grund für so viel Leid ist.
Ich schlucke, wische mir den salzigen Film vom Gesicht und streiche mein Haar zurück. Zu meiner Linken, hinter den Reihen von Schaumkronen, die sich vom Strand abheben, ragen die Konturen des Vergnügungsparks auf, der Mond schimmert auf den rostigen Schienen. Ich zurre am Schot und steuere aufs Ufer zu, doch die Strömung ist stärker als erwartet und drückt mich weiter die Küste hinauf. Das schlaffe Segel kommt nicht gegen die Gezeiten an, und mein Herzschlag pocht in den Fingern, als ich das kleine Boot ans Ufer dränge. Schließlich, ein ganzes Stück hinter der Achterbahn und weit in den alten Ruinen jenseits des Vergnügungsparks, schleift der Kiel über Sand.
Eine Weile hüpft das Boot nur auf und nieder, wird ans Ufer gespült, dann weggezogen und wieder angespült. Das Wasser im Rumpf bedeckt meine Knöchel und macht das Boot träge. Doch ich kann mich nicht dazu aufraffen, meinen Platz zu verlassen. Ich bin zu ängstlich. Am liebsten würde ich ewig so weitertreiben, da, wo die Flut auf den Sand trifft, an diesem Zwischenort.
Der Strand ist unbewacht. Hier könnten überall Mudo sein, die sich in einer Art Winterschlaf befinden, bis sie einen lebenden Menschen wittern.
Ehe ich es mir anders überlege, springe ich aus dem Boot und ziehe es so weit wie möglich aus der Brandung heraus. Ich gehe neben ihm in die Hocke, schaue geradeaus auf den breiten Dünenstreifen und umklammere dabei den Griff der Sichel. Auf der anderen Seite der Dünen sind alte Uferbefestigungen, die noch aus der Zeit stammen, bevor sich die Stadt an ihren gegenwärtigen Standort zurückgezogen hat. Hinter diesen Wällen liegen reihenweise zerfallende Gebäude, bis hin zu der Straße, die die Überreste der zerstörten Stadt und den Wald voneinander trennt.
Jedes Mal, wenn das Licht vom Leuchtturm herüberschwenkt, werden die Windungen der Achterbahn angestrahlt, die sich links von mir aus den Überresten der alten Stadt erheben. Wie weit mein Boot vom Kurs abgekommen ist, merke ich erst jetzt. Ich bin viel weiter hinter dem Vergnügungspark, als mir lieb ist, doch nun bleibt mir nichts anderes übrig, als voranzustapfen. Auch wenn alles in mir schreit, dass ich das Boot wieder ins Wasser schieben und mich schnell nach Hause aufmachen sollte, weiß ich, dass ich das nicht kann. Nicht nur, weil Blane mich anzeigen wird und weil ich es Cira versprochen habe, sondern auch, weil ich es Catcher schuldig bin. Er soll das hier nicht allein bewältigen müssen.
Ich zwinge mich, das Boot zurückzulassen und über den Strand zu gehen. Ich muss schnell auf die andere Seite der Uferbefestigung gelangen. Hier draußen bin ich schutzlos. Wenn hier irgendwo Mudo sind, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass sie ans Ufer angespült worden sind und diesen Strand nicht verlassen haben. Der Sand, noch warm von der Hitze des Tages, ist von einem dicken Gewirr aus Seetang und Treibholz bedeckt. Als ich die Dünen erreiche, sinken meine Füße tief in den Sand ein, ich stolpere und verliere meine Waffe. Ich liege auf den Knien, als ich das Stöhnen höre.
Zu meiner Linken gerät der Sand in Bewegung, ein kleiner Erdrutsch. Eine Hand wird sichtbar, krallt sich in die Luft. Blankes Entsetzen zuckt mit solcher Gewalt durch mich hindurch, dass ich das Gefühl habe, von Stahl zerschnitten zu werden. Ich falle hintenüber, rutsche die Düne hinunter. In meinem Körper krampft sich alles zusammen, in meinem Kopf blitzen Bilder der letzten Nacht auf: Mudo, Blut, Bisse, Ansteckung. Ich reagiere langsam, bin zu träge zu begreifen, was los ist. Wild taste ich um mich, meine Hände sind leer, und dann sehe ich, dass meine Waffe außer Reichweite liegt.
Über den weichen Boden kletternd, robbe ich auf meine Sichel zu, während ein fetter Mudo-Mann sich unter Mühen ausgräbt. Er ist unbeholfen, noch viel unkoordinierter als ich, aber trotz allem zu nah.
Schreie ersticken mich, ich schnappe nach Luft. Schließlich streifen meine Finger den Griff meiner Waffe. Ich versuche die Ruhe zu finden, die ich zu meiner Verteidigung brauche,
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