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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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der Lichtstrahl des Leuchtturms, an den man sich in einer unsicheren Nacht halten kann. »Vertrau mir.« Er führt meine Finger zu den Zwischenräumen in der Bretterwand und zeigt mir, wie ich klettern soll.
    Oben angelangt zögere ich, bleibe rittlings auf den dicken Holzbalken sitzen. Catcher folgt mir rasch und setzt sich mir gegenüber, unsere Zehen berühren sich. Ich schaue überallhin, nur nicht zu ihm. Die Nacht kommt mir schwer vor, als könnte sie mich hier festnageln.
    Wir sind schon viele Male allein zusammen gewesen, doch heute Nacht hat sich etwas verändert. Auf einmal ist mir viel bewusster, wie breit seine Schultern, wie stark seine Hände sind, wie er mich ansieht und wie es sich anhört, wenn er atmet.
    Ich kann nicht sagen, ob sich zwischen uns wirklich etwas verändert oder ob mein eigenes Zögern mir die Sinne verwirrt. Ich grabe meine Fingernägel ins Holz, die Splitter durchbohren meine Haut. Aber der Schmerz dämpft meine Angst nicht, schrammt nur an ihrer Oberfläche entlang.
    Ich öffne den Mund, will ihm etwas erzählen. Irgendwas. Will ihm erklären, warum ich nicht weitergehen kann. Will ihm noch einmal sagen, wie leid es mir tut. Aber er spricht zuerst.
    »Ich habe Höhenangst«, sagt er. Sein Geständnis kommt so unerwartet, dass ich zu kichern anfange, ehe mir klar wird, dass ich nicht lachen sollte. Mit einer Hand vor dem Mund versuche ich mein Lachen zu ersticken.
    »So hoch ist das doch nicht.« Ich will mutig auftreten, weiß aber nicht, ob ich ihm dadurch ein entspannteres Gefühl geben kann.
    Er verdreht die Augen, seine Mundwinkel zucken. »Ich rede von echten Höhen.«
    Wieder fällt mir auf, wie rau sein Kinn ist, er hat Bartstoppeln. Das ist nicht derselbe Junge, der es beim Spielen immer auf mich abgesehen hatte, der mich beim Fangen gejagt hat, ja, das ist nicht mal der mit den zu dünnen Armen und dem Adamsapfel.
    »Ich erinnere mich noch, wie Cira und ich dich einmal im Leuchtturm besucht haben«, sagt er. »Cira war einfach nur froh, den Pflichten im Waisenhaus zu entkommen, aber ich wollte etwas anfangen mit unserem freien Vormittag. Ich wollte klettern, wollte die Aussicht von ganz oben sehen.«
    Er schaut an mir vorbei, sein Blick ist auf nichts Bestimmtes gerichtet. »Auf halbem Weg nach oben konnte ich nicht weiter.«
    Ich schlucke und stütze mich mit der Hand ab, plötzlich spüre ich seine Körperwärme allzu deutlich und die Wand und die Nacht, die mich verzehrt.
    »Daran erinnere ich mich nicht mehr«, antworte ich, weil es wahr ist. So viel von meiner Kindheit liegt in einem Nebel, Erinnerungen verstricken und vermengen sich in meinem Kopf mit Geschichten, sodass ich nicht mehr weiß, was meine Erlebnisse sind und was ich aufgrund von Erzählungen dafür halte.
    »Verständlich«, sagt er. »Eigentlich ist auch nichts passiert. Wir waren gekommen, um den Leuchtturm zu erkunden, du hast mit Cira gespielt, und ich habe den halben Tag auf der Treppe gesessen und versucht, meine Hände davon zu überzeugen, das Geländer loszulassen und weiter hochzuklettern.«
    Ich schließe die Augen, um es mir vorzustellen, kann es aber nicht.
    »Ab und zu seid ihr vorbeigelaufen. Cira hat dann mit dem Finger auf mich gezeigt und gelacht, schon damals war sie unglaublich frech. Aber du hast immer nur dagestanden und geschaut. Schließlich hat Cira sich in irgendetwas vertieft, und du bist zu mir gekommen und hast eine Weile neben mir gesessen.«
    »Und was dann?«, frage ich. Ich kann mich nicht erinnern, dass er je die Aussicht vom Leuchtturm sehen, dass er in all den Jahren, die ich ihn kenne, je die Stufen bis zur Galerie hinaufsteigen wollte.
    »Nichts. Wir haben einfach nur dagesessen. Du hast nichts gesagt und ich auch nicht. Dann war unser Vormittag vorüber, und Cira fing an zu weinen. Ich bin mit ihr zurückgegangen, um die Nachmittagspflichten zu erledigen.«
    »Du bist nie höher hinausgekommen.«
    »Nein.«
    »Du hast es nie noch einmal versucht?«
    Er schüttelt den Kopf.
    Ich schaue auf den Abstand zwischen unseren auf der dicken Wand ruhenden Händen, beobachte seine Finger auf dem Holz. Ich versuche herauszufinden, was er mir sagen will. Dass ich mich für meine Ängste nicht schämen muss? Dass es okay ist, wenn wir nur hier sitzen? Und dass er bei mir bleiben wird, auch wenn ich nicht weitergehen kann?
    Plötzlich wünschte ich, ich wäre Cira. Ich wünschte, ich wüsste, wie man flirtet, wie man weiß, was Jungs meinen, wie man weiß, was sie sagen und was

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