Das Meer Der Tausend Seelen
sie wollen. Ich wünschte, ich könnte mit derselben Sorglosigkeit handeln, von der jede ihrer Bewegungen durchdrungen ist. Bis zu diesem Sommer war mir gar nicht klar gewesen, dass es sich dabei um eine Fähigkeit handelt, dass ich so etwas überhaupt einmal brauchen könnte.
Mir reichte es, wenn sie diejenige war, die das Haar zurückwarf und den Kopf schräg legte, während ich Steine über die Wellen hüpfen ließ, den Horizont im Auge behielt und darauf achtete, dass unsere sichere Hülle nicht durchbrochen wurde.
Ehe ich mich zurückhalten kann, schwinge ich mein Bein über die Barriere und lasse mich auf der anderen Seite fallen. Catcher landet im nächsten Moment neben mir. Wir befinden uns im Schatten der Wand, in nahezu pechschwarzer Finsternis. Ich spüre, wie seine Hand nach mir greift, spüre seine Finger, die meine Haut hauchzart streifen.
In diesem Augenblick frage ich mich, ob wir in der Schwärze miteinander verschmelzen könnten. Unsere Körper haben keine fest umrissenen Konturen, es gibt nichts, was uns trennt, nur schwüle Sommerhitze steigt vom Boden her auf.
Es fühlt sich grenzenlos an. Die Wände, die mich fixieren, sind weg, meine Welt ist explodiert, und ich ringe nach Luft, als ob es hier, außerhalb der Stadt, nicht genug davon gäbe.
Plötzlich fühlt sich mein Kopf zu leicht an und die Welt jenseits der Barriere zu verkehrt, zu gefährlich. Ich habe ein hohles Gefühl im Bauch, die Angst zerfrisst mich von innen. Ich sollte nicht hier sein, es ist nicht sicher. Es ist verboten. Ich drehe mich um, habe das Gefühl, mein Körper wird in seinen Grundfesten erschüttert, als ich die Hand nach der Barriere ausstrecke. Ich muss zurück.
Und dann packt Catcher meine Hand und zieht mich zu sich. Da weiß ich wieder, wo ich ende und er anfängt. Er zieht das Messer aus der Scheide an meiner Hüfte und hält es mir hin, der Mond gleitet über die scharfe Metallschneide. Ich nehme das Messer, halte es fest und hoffe, dass ich mich nun stärker fühlen werde.
»Es besteht immer noch die Möglichkeit, hier draußen auf Mudo zu stoßen«, sagt er. Das Wort Mudo kommt ihm leicht über die Lippen, doch meine fangen an zu zittern.
»Die Zäune um den Park halten sie immer zurück«, fügt er hinzu. »Nur für den Fall …«
Ich versuche die Angst hinunterzuschlucken, sie hat einen scharfen, metallischen Geschmack … wie Blut. Wahrscheinlich merkt er, wie ich mich von ihm zurückziehe, mich bereit mache, wieder über die Barriere zu klettern, zurück in die Sicherheit der Stadt, denn sein Griff lockert sich nicht. Er zieht mich näher an sich heran.
»Keine Sorge«, sagt er, »ich bin bei dir.« Seine Stimme ist wie die Nacht um mich herum, tief und dunkel, und ich versuche, mich entspannt an ihn zu lehnen und ihm zu vertrauen.
Noch nie war ich außerhalb des Schutzes der Stadt, und als wir durch die Ruinen am Rande des Vergnügungsparks wandern, ist jeder Schatten der Tod, der sich erhebt. Jedes Scharren auf dem bröckelnden Beton ist das Stöhnen der Mudo, die nach unserem Fleisch gieren. Jede Wegbiegung führt uns weiter weg von unserer Wirklichkeit und hinein in die tote Welt.
Ich frage mich, wie er sich hier draußen so wohlfühlen kann. Er ist genauso aufgewachsen wie ich, in der Schule hat er dasselbe gelernt: Die einzigen sicheren Orte sind solche, die von Mauern und Zäunen geschützt sind. Die Toten sind nicht aufzuhalten, wenn sie menschliches Fleisch wittern. Wandelt sich ein Angesteckter, wenn keine Mudo in der Nähe sind, wird er zum Breaker.
Und trotzdem schlendert Catcher voller Vertrauen und Gelassenheit durch die Ruinen. Mit jeder Faser meines Körpers beneide ich ihn darum.
Etwas flattert an uns vorbei, ein schwaches Geräusch, ein Luftzug. Ich zucke zusammen, mein Herz bleibt beinahe stehen, ich packe Catcher bei der Schulter. »Nur eine Fledermaus«, murmelt er, und ich höre das Lächeln in seiner Stimme.
Die Regeln gibt es aus gutem Grund, will ich ihm sagen. Wir sollten nicht hier sein. Aber er zieht mich an sich, und ich lasse mich darauf ein, ihn zu fühlen.
2
I m Zentrum des Vergnügungsparks holen wir die anderen ein, eines der Mädchen redet gerade über die Dunkle Stadt. Sie heißt Mellie und ist zwei Jahre älter als ich. Mit ausgestreckten Armen wirbelt sie durch die Dunkelheit, ihre Finger streifen die stillstehende Luft. »Beim ersten Schnee mache ich mich auf«, sagt sie.
Das Licht des Vollmondes wird vom geborstenen Beton auf dem Boden reflektiert.
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