Das Meer Der Tausend Seelen
jetzt, während Catchers Atem die Luft bewegt. Ich kann ihn spüren, das Pulsieren zwischen uns. Ein flüchtiger Blick von ihm auf meinen Mund – und schon fahre ich unbewusst mit der Zunge über meine Lippen. Ich befürchte, er könnte vielleicht überhaupt nicht an mir interessiert sein – und es macht mich nervös, dass er es vielleicht ist. Doch am meisten macht mir die Stille zu schaffen. Der Druck, doch etwas zu sagen, nagt an mir.
»Ich bin froh, dass du dich entschlossen hast, mit uns zu kommen«, sagt Catcher.
Erleichtert verlagere ich das Gewicht. Mein Hemd klebt mir in der Hitze der Sommernacht am Rücken. Ich weiß nicht, wie ich ihm sagen soll, dass ich die Barriere noch nie habe austesten wollen, dass ich nicht so bin wie Mellie und die anderen, die die Welt erforschen wollen, und dass mir ein sicheres Zuhause genügt.
Stattdessen murmele ich: »Ich auch.« Dann herrscht wieder Stille zwischen uns beiden. Ich tippe mit dem Fuß gegen das Bein des Einhorns und überlege, wie ich die peinliche Lücke füllen soll. Ein verrückter Gedanke kreist in meinem Kopf: Ich sollte zugeben, wie sehr ich ihn mag – doch ich verdränge ihn schnell wieder.
Er nimmt das Ende meines Zopfs in seine Hände, streicht mit den Fingern über die Haarspitzen – und ich kann ein Lächeln nicht zurückhalten.
»Ich habe das Gefühl, als hätte sich etwas geändert«, sagt er, und ich weiß nicht, ob er damit zum Besseren oder zum Schlechteren meint.
»Wie denn?«, frage ich. Meine Stimme überschlägt sich fast.
Er konzentriert sich auf seine Finger in meinem Haar. Fasziniert schaue ich ihm zu.
Er räuspert sich. »Weißt du, manchmal ist es doch so, man kennt Leute – oder man glaubt es zumindest, aber vielleicht kennt man sie ja nur auf eine Art?« Er wirft mir einen raschen Blick zu. Mir fällt auf, wie rot seine Wangen im Mondlicht sind. Ich nicke mit großen Augen und fürchte viel zu sehr, dass er von mir redet und dem, was zwischen uns möglich wäre.
Er atmet tief durch und lässt meinen Zopf los, der mir über die Schulter gleitet. Meine Lungen brennen. Ich warte darauf, dass er fortfährt.
»Vielleicht kennst du jemanden als Freundin deiner kleinen Schwester«, sagt er. »Und dann verändert sich etwas. Vielleicht hörst du eines Tages, dass sie etwas sagt, was du nicht erwartet hättest. Oder du hörst, wie sie lacht, und dann siehst du sie plötzlich ganz anders. So wie dies hier anders ist.«
Er legt eine Hand auf meine Schulter und seinen Daumen auf mein Schlüsselbein. Das Luftholen fällt mir schwer, so verzweifelt wünsche ich mir zu hören, welche Gefühle er für mich hat. Und dass er genauso oft an mich denkt wie ich an ihn.
»Dieses Mal findest du sie vielleicht …« Er zögert. Über uns sausen Sterne dahin, kollidieren und lassen ihr Licht nur für uns scheinen. »Wunderschön«, sagt er, und mein Leib explodiert, mein Herz füllt jeden Teil von mir.
Catcher rückt näher. »Wunderbar und lustig und …« Er kommt noch näher heran.
Mein Körper kribbelt, weil ich ihm so nahe bin. Mir wird klar, wie recht er hat. Wir sehen Menschen immer noch so, wie sie früher waren, und vielleicht gar nicht so, wie sie jetzt sind. Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen und stürze mich hinein, meine Stimme zittert nur leicht: »Und vielleicht fängt man auch an, den Bruder seiner besten Freundin anders zu sehen.«
Ich frage mich, was ich jetzt tun soll … ob ich mich auch zu ihm lehnen soll?
Er lächelt dieses geheimnisvolle Lächeln, nur dieses Mal glaube ich, dass ich vielleicht verstehe, was es bedeutet. Die Möglichkeiten schlagen knisternd Funken zwischen uns. Er sieht hinab auf meinen Mund, sein Atem haucht auf meine Lippen.
Als ich ein Kind war, hat der Boden einmal unter meinen Füßen gebebt. Man sagte, das sei die Erde, die sich bewege, die sich setze. Aber dabei hat sie eine riesige Welle aufgeworfen. Ich weiß noch, wie ich auf dem Leuchtturm stand und sie kommen sah. Ich weiß noch, wie sich die Luft verdichtete, ehe sie brach, wie nur einen Atemzug lang alles ruhig wurde, sich zurückzog und so verharrte.
Und so fühlt es sich an, als Catcher sich auf mich zu bewegt. Die Luftverdichtung zwischen uns, die Ruhepause und dann seine Lippen, die die meinen streifen.
Ich spüre ihre Hitze zuerst. Spüre seinen Mund auf meinem. Ich lege meine Hand auf seine, und unsere Finger verflechten sich.
Alles in meinem Leben scheint mich auf diesen Augenblick hingeführt zu haben. Hierauf
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