Das Meer Der Tausend Seelen
als wären wir die Ersten, die auf diese alte Welt gestoßen sind, als hätten wir alle festen Bindungen hinter uns gelassen. Die Luft jenseits der Barriere scheint anders zu sein, förmlich zu summen vor lauter Möglichkeiten. Und jedes Mal, wenn ich einen Atemzug davon nehme, habe ich das Gefühl, mein altes Ich hinter mir zu lassen und etwas anderes zu werden.
Langsam denke ich, dass es vielleicht falsch von mir war, mich vor der Welt außerhalb der Barriere zu fürchten. Vielleicht könnte ich genauso sein wie die anderen in meinem Alter, vielleicht könnte ich auch davon träumen, die Wanderung zur Dunklen Stadt zu unternehmen. Vielleicht gibt es mehr auf der Welt, als sich in so einer abgelegenen Stadt wie Vista zu verstecken.
Catcher will offenbar etwas sagen, und ich lehne mich gerade zu ihm, als jemand ruft:
»Was ist mit dir, Catcher? Machst du mit bei einem Wettrennen die Achterbahn hoch?« Das war Blane, eine Freundin von Mellie, die ihr überallhin folgt. Mit hochgezogener Augenbraue geht sie langsam auf uns zu. Catchers Blick flackert ein wenig, und ich versuche, ihre Anmut zu studieren und mir einzuprägen. Ich merke, wie unbeholfen ich die Schultern hochgezogen habe, und entspanne mich ein bisschen. Wie kann er mich mögen, wenn es solche Mädchen gibt?
»Solche Kunststücke überlasse ich den Zwillingen.« Mit einer Kopfbewegung weist er auf die beiden Brüder, die auf dem alten Holzgestell herumalbern und versuchen, einander auszustechen. Doch sie gibt nicht auf.
»Ach, komm schon, Catch«, sagt sie. Er wirkt verkrampft, und mir fällt sein Geständnis ein, dass er Höhenangst hat.
»Es ist meinetwegen«, werfe ich rasch ein. Meine Stimme ist ein Piepsen, das glatte Gegenteil von Blanes tiefem Schnurren. Ich will mich räuspern, will, dass meine Hände aufhören zu schwitzen, als sich alle Blicke auf mich richten. Ich bin es nicht gewohnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und spüre nur allzu deutlich, dass ich jünger bin als die anderen und nicht dazugehöre, kein Teil ihrer Gruppe bin.
»Ich … äh … ich habe Höhenangst«, sage ich und kann meine Verlegenheit nicht verbergen.
Blane stemmt eine Hand in die Hüfte. Als sie gerade weitersprechen will, legt Catcher seinen Arm um mich, und ich spüre, wie mein Körper starr wird, wie ich Angst bekomme, er könnte irgendwie wegrutschen, wenn ich mich bewege.
»Gabry und ich lassen das aus und bleiben hier sitzen«, sagt er.
Blane sieht mich mit gerunzelter Stirn an und wendet sich dann den anderen zu. »Bitte. Aber hier wird uns doch hoffentlich wenigstens einer zeigen, was in ihm steckt«, erwidert sie laut und geht mit großen Schritten auf die Achterbahn zu, deren höchste Erhebung die Zwillinge schon halb erklommen haben.
Ich warte darauf, dass Catcher mich loslässt, bestimmt hat er mich nur zum Schutz gegen Blane im Arm gehalten. Stattdessen spüre ich seine Finger auf meiner Schulter, er zieht mich an sich. Noch nie war ich mir meines eigenen Körpers so bewusst, war noch nie so beeindruckt davon, dass er zu derart aufgeregtem Zittern fähig ist.
Ich höre die Rufe, mit denen die anderen die Jungs anfeuern. Sie sind Schatten im Mondschein. Catcher zieht mich weg von der Gruppe, hin zu dem Karussell mit den verblassten Tieren unter dem spitzen Dach. Ihre rote, grüne, lila und blaue Farbe ist an vielen Stellen abgeplatzt.
Ich schiebe ein Bein über das Einhorn, die Spitze vom Horn ist schon lange abgebrochen und verschwunden. Catcher steht neben mir, die eine Hand auf meinem Schenkel, die andere an dem Pfahl neben meinem Kopf. Sein Bauch berührt leicht meine Hüfte, und ich presse mein Knie an die Bande des Karussells.
Möglichkeiten tun sich zwischen uns auf. Meine verschwitzten Finger klammern sich an den Sattelknauf, weil ich fürchte, wegzugleiten, irgendwie abzuheben und davonzufliegen.
Meine Mutter hat mir einmal von ihrem ersten Kuss erzählt. Ich lag fiebernd im Bett, war im Delirium, wie sie mir später erzählte, aber ich erinnere mich an ihre Stimme und wie sie mir von dem Jungen erzählte, den sie als junges Mädchen gekannt hatte. Er war aus ihrem Dorf im Wald. Er war verletzt gewesen und hatte Fieber gehabt wie ich. Sie hatte an seinem Bett gesessen und wollte ihn nicht aufgeben, und später, als es ihm besser ging, hatte sie mit ihm auf einem Hügel gestanden und vom Meer geträumt – und dann hatte sie ihn geküsst, sämtliche Hoffnungen für ihre Zukunft vor ihr ausgebreitet.
Daran denke ich
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