Das Meer Der Tausend Seelen
doch ich kann immer nur an die letzte Nacht denken. Zweifel überfallen mich, mein Kopf sagt mir, dass ich wieder versagen werde.
Ich habe vergessen, wie man sich hinstellen, wie man sich verteidigen muss. Ich sehe nur das Blut, das Catchers Arm hinunterläuft.
Plötzlich weiß ich, dass ich nicht dazu fähig sein werde, mich zu wehren. Ich begreife, dass ich gleich gebissen, angesteckt werde. Genau wie Catcher.
Ich fange an, wild herumzufuchteln, warte nicht, bis der Mudo in Reichweite ist. Meine Augen wollen sich so gern schließen, aber ich zwinge sie, offen zu bleiben. Irgendwie fährt die Klinge in den Hals des Toten, aber ich habe sie nicht kräftig genug geschwungen, und sie bleibt stecken, ehe ich sein Rückgrat durchtrennen kann.
Meine Hände sind verschwitzt, die Finger rutschen beim Versuch, die Sichel freizubekommen, vom hölzernen Griff ab. Ich schreie, kreische um Hilfe, obwohl ich weiß, dass hier draußen niemand ist. Ich bin völlig allein.
Der Sand rutscht weg, und ich verliere wieder den Halt, doch ich will meine einzige Waffe nicht loslassen. Ich falle den Hang hinunter und ziehe den Mudo-Mann mit, meine Sichel steckt noch immer in seinem Hals.
Unsere Beine verhaken sich kurz, und ich schreie wieder auf. Noch nie habe ich einen Mudo berührt, noch nie sein Fleisch gefühlt. Es ist wie die Haut eines Apfels, der wochenlang in der Sonne gelegen hat. Es ist leblos, sitzt zu stramm und ist doch irgendwie schlaff. Galle steigt mir die Kehle hoch, und ich würge – ich kann nicht fassen, dass ich so dumm sein konnte, hierherzukommen. Es wird so einsam sein, allein zu sterben.
Wir landen am Fuß der Düne, und ich wälze mich auf den Rücken, dränge mich weg von seinen geifernden Händen. Nun kann ich noch andere Mudo stöhnen hören, andere Gestalten sehen, die sich in den Sandhaufen regen.
Mein einziger Gedanke ist, dass ich umkehren und zu meinem Boot zurückrennen muss, aber der fette Mudo rappelt sich hoch und kommt auf die Beine. Meine Sichel steckt noch immer in seinem Hals. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mein Boot schnell genug ins Wasser ziehen und fliehen kann.
Ich erstarre. Die Welt, die so ruhig wirkte, bewegt sich jetzt im Mondschein. Ringsherum schleppen sich Mudo aus den Dünen, zwischen mir und der Uferbefestigung. Ohne Waffe bin ich vor den Wellen gefangen.
Gedanken rasen durch meinen Kopf, zu schnell, um sie zu erfassen. Ich muss rennen, flüchten, mich verteidigen. Ich werde nie gegen alle kämpfen können.
Wieder denke ich, dass ich hier sterben werde. Gebissen, infiziert. Dass ich mich wandeln werde. Keiner wird wissen, was mir passiert ist. Diese Erkenntnis schießt mir durch den Kopf und reißt jede dunkle Ecke meiner Ängste auf. Meine Beine werden taub, mein Verstand versagt, ich erstarre.
»Stopp!«, schreie ich mich an und vertreibe diese sinnlosen Gedanken.
Entgegen dem Willen meines Körpers zwinge ich mich, auf mein Boot zuzuhalten, doch ich weiß, ich werde es nicht schaffen. Es sind zu viele. Ich wende mich zum Zaun um, aber diesen Ausgang haben sie auch blockiert. Es gibt nur eine schmale Lücke zwischen den Toten um mich herum; in die stürze ich mich und fange an zu rennen. Das Meer liegt zu meiner Rechten, die Dünen zu meiner Linken und hinter mir her schleppen sich Mudo.
Ich keuche. Ich muss schneller sein als die Mudo, so hat man es uns beigebracht. Mudo können nicht rennen. Ich drossele mein Tempo und hole tief Luft. Ich kann es schaffen, sage ich mir. Ich kann überleben. Bei jedem Schritt auf dem nassen Sand wiederhole ich diese Worte.
Bis ich mich an das Mädchen von gestern Nacht erinnere – den Breaker. Und da fällt mir Mellie wieder ein und das Geräusch, als Catcher ihren Hals zertrümmert hat. Woraufhin ich wieder an ihr verzweifeltes Stöhnen kurz vor ihrem Tod denken muss.
Mudo soll so viel heißen wie das englische Wort »mute«, also sprachlos, es ist ein Wort, das von Händlern und Piraten übernommen wurde, die früher den Hafen bevölkert haben. Aber die Kreaturen, die mir folgen, die Leute-die-einmal-waren, sind alles andere als stumm. Sie bestehen nur noch aus Geräusch, aus Hungerstöhnen.
Schweiß tropft mir in die Augen, und alles um mich herum verschwimmt, nur nicht die Erinnerung an letzte Nacht. Ich blicke über die Schulter – die Mudo fallen weiter zurück – und schätze die Entfernung zwischen uns ab, dann schaue ich prüfend vor mir den Strand entlang in die Dunkelheit.
Ich muss nur so weit laufen, bis ich
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