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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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trockenen Lektionen, die man uns in der Schule gelehrt hat, mit der Wirklichkeit und dem Mädchen vor mir in Einklang zu bringen. Und jetzt begreife ich die Geschichten von den Jahrzehnten nach der Rückkehr erst richtig. Damals hatten die Rekruter Städte zurückerobert, nur um immer wieder auf kleine Nester von Mudo zu stoßen, die von Neuem Ansteckung auslöste.
    Ich verstehe, wie die Breaker die Lebenden daran hindern konnten, die Welt wieder für sich zu beanspruchen.
    Aber keiner von uns hat je einen von ihnen gesehen. Keiner von uns hat je wirklich verstanden, was es mit ihnen auf sich hat. Wenn man in der Sicherheit des Klassenzimmers etwas erzählt bekommt, ist das eine Sache; so etwas leibhaftig zu sehen, ist etwas ganz anderes. Wir sind an die Mudo gewöhnt, die am Strand angespült werden – langsam, träge, mit Wasser vollgesogen –, auch an die, die den Weg bis zur Barriere finden und sich dagegendrücken.
    Als Kinder schon haben wir gelernt, wie wir uns gegen diese Mudo zu verteidigen hatten. Aber dieses Mädchen – sie ist einfach zu schnell. Ein Lidschlag, und schon reißt sie einen anderen Jungen zu Boden. Er schwingt eine Axt, die in ihrem Arm stecken bleibt, doch das scheint sie nicht zu stören. Ihre Zähne haben seinen Hals schon gefunden, ehe er seine Waffe losreißen kann, und er fällt … ein schwarzer Blutstrom in der Nacht.
    Ich mache einen Schritt zurück, will wegrennen. Denn ich weiß, Wegrennen ist das Sicherste. Aber dann sehe ich Catcher. Er läuft nicht auf die Barriere zu, sondern auf den Breaker. Sie weicht vom Kurs auf ihr neues Ziel ab und rast auf ihn zu. Er hält ein Messer in der Hand, die Klinge wirkt viel zu klein und nutzlos gegen ihren bevorstehenden Angriff.
    In mir zieht sich etwas zusammen und wird laut wie ein Schrei. Sie kommt ihm immer näher. Alles geht zu schnell. In letzter Minute macht Catcher einen Schritt zur Seite, sie rast an ihm vorbei. Er packt ihr Haar, die Hand an ihrer Kehle zerrt er ihren Kopf nach hinten. Mit einem Aufschrei stößt er ihr die Klinge in die Schädelbasis, sein Arm zuckt vor Anstrengung.
    In dem Moment, in dem er mich mit weit aufgerissenen Augen anschaut, scheint alles zum Stillstand zu kommen. Ihr Körper sackt zwischen uns zusammen. Sie ist tot. War schon tot. Sie war nichts als Drängen und Gieren und Ansteckung. Dennoch kann ich in seinem Gesicht etwas sehen, was sich auch in meinem spiegelt: Bedauern und Resignation.
    Sie war einmal ein Mädchen. Sie war einmal wie wir. Ihr Körper liegt auf dem Boden, er beugt sich über sie, zieht sein Messer heraus und legt seine Hände auf ihre Augen.
    Und deshalb sieht er es nicht. Wie ein Wetterleuchten am Horizont flackert am Rande meines Sichtfelds etwas auf. Mellie, die sich mit gefletschten Zähnen und gekrümmten Händen aufrappelt. Sie ist schon ausgeblutet, gestorben und hat sich gewandelt.
    Ich höre noch einen Schrei, der mir bis ins Mark geht. Catcher schlängelt sich zu der panischen Gruppe vor der Achterbahn durch, dort ist der infizierte Junge aufgesprungen – der, der in den Hals gebissen wurde – und stöhnt mit Schaum vor dem Mund.
    Catcher läuft auf die Gruppe zu, aber Mellie ist schneller. Ich tue das Einzige, was ihn meines Wissens retten, was ihm Aufschub verschaffen kann: Ich schreie und kreische und fuchtele mit meiner Waffe in der Nachtluft herum.
    Es funktioniert. Mellie wendet sich von Catcher ab und sprintet auf mich zu. Ich schaue nicht einmal, wie Catcher darauf reagiert, ich habe weder Zeit zum Denken noch dem Grauen nachzugeben, das mich befällt. Automatisch bringe ich meine Füße in Stellung, wie ich es gelernt habe. Ich packe den Griff meiner Waffe, bemühe mich, meine Muskeln zu lockern, mich zu entspannen und zu warten, bis sie in die Reichweite meiner Klinge kommt.
    Ich sehe jedes Detail im Mondschein. Mellie nähert sich. Ihre Augen sind noch klar, ihr langes braunes Haar peitscht frei um ihr Gesicht. Ihre Haut ist sonnenbraun, weich – und glänzend vor Blut.
    Während Mellie auf mich zu rennt, sehe ich nur vor mir, wie anmutig sie vorhin getanzt hat. Ich kann nur daran denken, wie sehr ich so sein wollte wie sie. Wir hätten Freundinnen sein können. Ich hätte mich mehr bemühen können, sie wirklich kennenzulernen. Dies hier hätte nicht passieren sollen.
    Eigentlich hätte sie in Sicherheit sein müssen. Eigentlich hätten wir alle sicher und glücklich von unserer Zukunft träumen sollen.
    Ich will meine Augen schließen, will sie so in

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