Das Meer Der Tausend Seelen
im Takt mit jedem Schlag gegen das Metall, und ich presse meine Stirn an die Barriere, das trockene Holz riecht schwach nach Moder.
Hier draußen könnten noch andere Mudo sein. Ich weiß, dass ich über die Wand klettern und nach Hause laufen sollte, obwohl ich nichts lieber tun möchte, als mich hier in den Schatten der Nacht verstecken. Ich möchte mich von diesem Albtraum aufsaugen lassen und verschwinden.
Die Welt ist zu schnell geschrumpft. Was nur Stunden zuvor noch ein neuer Horizont aus Möglichkeiten war, der sich vor mir eröffnete, ist nun in sich zusammengebrochen. Zu Recht habe ich mich vor der anderen Seite der Barriere gefürchtet. Es war dumm von mir, mir einreden zu lassen, es könnte außerhalb von Vista besser sein. Als würde es irgendwo anders als bei meiner Mutter im Leuchtturm und in der Sicherheit der Stadt einen Platz für mich geben.
Ich klettere die dicke Wand hoch und lasse mich auf die andere Seite fallen. Schatten bewegen sich durch die Stadt, der stumpfe Mondschein wabert um sie herum. Ich verschmelze mit dem ganzen Chaos, halte den Kopf gesenkt, um unsichtbar zu bleiben für die Leute, die panisch durcheinanderlaufen.
Männer strömen laut rufend mit ihren Waffen aus den Häusern. Frauen verbarrikadieren Fenster und Türen. Aber ihr Gefühl von Dringlichkeit berührt mich nicht. Ich bin hohl und taub, nichts weiter als ein Gespenst.
Ein paarmal bleibe ich auf der Straße stehen, die Stadt strömt an mir vorbei. Soll ich umkehren? Wie konnte ich Cira nur einfach so verlassen? Cira und die anderen werden sich dem Zorn der Miliz und des Rates stellen müssen. Wie konnte ich nur an mich denken und sie im Stich lassen?
Doch ich kehre nicht um. Ich gehe immer weiter, schlängele mich zwischen den Häusern in den engen Straßen hindurch, die Finger locker um meine Waffe gelegt. Noch immer brennen Tränen in meinen Augen.
Heute Nacht ergibt nichts einen Sinn. Der Kuss nach all dem Sehnen. Mein erstes Mal hinter der Barriere und das Gefühl von Freiheit und Begehren.
Aber vor allem der Breaker. Ihre Schnelligkeit. Ihre Wildheit. In unserem Unterricht hat man Breaker mit Tieren verglichen, die das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern in ihrem Umfeld erspüren können: Wenn in einem bestimmten Gebiet die weibliche Population zu groß ist, werden in der folgenden Zeit hauptsächlich männliche Junge geboren. Nur so ist das Überleben der Art gesichert.
Mit den Mudo verhält es sich genauso: Wenn es nicht genug Mudo in einem Gebiet gibt, wird jeder neu Infizierte zum Breaker. Sonst wäre es zu leicht, sie auszurotten. Mudo sind nur schwer zu töten, wenn sie in großer Zahl auftreten, denn als Einzelne sind sie zu langsam. Die Breaker hingegen halten nicht so lange durch, aber auch in kleiner Anzahl sind sie schwer umzubringen, und sie können sehr schnell Ansteckung verbreiten.
So etwas mit eigenen Augen zu sehen, ist etwas ganz anderes, als Geschichten in der Schule darüber zu hören. Ein Mädchen sterben zu sehen, das man kennt … und seine Rückkehr. Es rennen zu sehen und zu wissen, dass man ihm niemals davonlaufen kann.
Ich presse die Finger auf meine Augen und will den Anblick für immer auslöschen.
Niemand bemerkt mich in dem ganzen Chaos. Ich folge dem Pfad am Stadtrand entlang und zwischen den Bäumen hindurch zum Leuchtturm. Das ist das Zuhause von mir und meiner Mutter. Der Turm steht am Rand von Vista, auf der Spitze der Halbinsel, weit weg von den anderen Häusern und den Läden der Stadt. An seine runde Mauer schließt bündig der Zaun an, der dem Verlauf der Küste folgt. Ich starre auf den schweifenden Lichtstrahl, der sich seinen Weg durch die Nacht bahnt und im Rhythmus meines Herzschlags sein Echo findet.
Vor Jahren – vor Generationen – war Vista einmal eine bedeutendere Stadt, ein Handelshafen. Nach der Rückkehr, als die Straßen wegen der Mudo zu gefährlich geworden waren, entschieden sich immer mehr Menschen für den Boots- und Schiffsverkehr. Wegen des Leuchtturms und des kleinen Hafens war Vista mit dem Rest der Welt verbunden. Die Stadt war ein Knotenpunkt für Nachrichten, Güter, einfach alles. Sie war die Perle des Protektorats. Bis die Piraten begannen, die Schiffe zu plündern. Bis sogar das Meer zu gefährlich wurde.
Und jetzt sind wir nichts mehr, nur noch ein Licht an der Küste, das sich für niemanden dreht.
Die Fenster sind dunkel und hohl, ich kann die Leere des Hauses spüren. Meine Mutter ist wahrscheinlich noch bei der
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