Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
unsere Familien hofften, wir würden eines Tages heiraten, und wir haben oft darüber gelacht. Aber eigentlich habe ich mehr Zeit mit Arthur verbracht. Wir sind zusammen zur Schule gegangen und waren gute Freunde.«
Ich blickte auf. »Ach, komm schon, da steckt mehr dahinter. Ich habe das Foto von euch in Henley gesehen. Sie hatte die Hand auf deinem Arm, und du hast sie mit Blicken verschlungen.«
»Ich dachte, es wäre für dich nicht wichtig.«
»Das habe ich nie behauptet, nur, dass du mir keine Erklärung schuldig bist.«
»Ich gebe dir aber trotzdem eine. Flora war sehr hübsch und kokett, und ich habe mich in meinem jugendlichen Überschwang sehr von ihr angezogen gefühlt. Heutzutage nennt man das wohl auf jemanden stehen. Während ich an der Universität war, haben wir uns geschrieben. Sie war ein Mädchen, das selbständig dachte und sich darin sehr von den anderen abhob. Außerdem konnte sie sich für die verschiedensten Themen begeistern. Heute war es das Frauenwahlrecht, morgen der Sozialismus. Eigentlich wollte sie sich um einen Studienplatz in einem der Frauencolleges in Cambridge bewerben, aber es war ihr zu anstrengend, dafür eigens Griechisch und Latein zu lernen.«
»Griechisch? Ihr musstet Griechisch können? Fürs College?«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jedenfalls war sie im ersten Kriegsjahr eine fanatische Patriotin, hat mich bejubelt, als ich an die Front ging, und wurde selbst Krankenschwester. Später jedoch wurde sie zur leidenschaftlichen Pazifistin. Bald ähnelten unsere Briefe eher Streitschriften, und als ich zu meinem letzten Urlaub nach Hause kam, bestand sie darauf, dass ich sie besuchte und bei ihrer Familie in Hampshire übernachtete.« Er trank einen Schluck Champagner und stellte das Glas akkurat neben der Spitze seines Messers ab. Eine Weile beobachtete er wie hypnotisiert die in dünnen Fäden im Champagner aufsteigenden Bläschen, bevor er fortfuhr. »Die ganze Nacht haben wir geredet und debattiert, bis ich vor Erschöpfung halbtot war. Irgendwann ließ ich eine verärgerte Bemerkung fallen, ich weiß nicht mehr, was es war, woraufhin sie sich in meine Arme warf und mich um Verzeihung anflehte. Da habe ich sie geküsst. Natürlich habe ich sofort wieder aufgehört, aber sie beteuerte immer weiter, wie sehr sie mich liebe. Vielleicht hätte ich sie in klareren Worten zurückweisen sollen … Bei meinem Aufbruch am nächsten Tag war ich fest entschlossen, sie nie mehr wiederzusehen. Als ich dann zwei Tage später in meinem Quartier ihren Brief erhielt, war ich ausgesprochen erstaunt. Sie besaß die verblüffende Gabe, Ereignisse nach ihrem Gutdünken auszulegen. Also schrieb ich ihr einen eindeutigen Brief, in dem ich ihr so höflich wie möglich mitteilte, die Sache sei nicht so gewesen, wie sie sie in Erinnerung habe. Einige Zeit antwortete sie nicht, und dann …«
»Das war kurz vor deiner letzten Patrouille, richtig?«
»Ja«, antwortete er. »Später war ich ausgesprochen überrascht, was sie sich aus diesem spärlichen Rohmaterial zusammengereimt hat. Ihre Kriegsmemoiren sind von vorne bis hinten frei erfunden.«
»Du hast sie also nie geliebt?«
»Liebling, als ich an die Front fuhr, verkörperte Flora Hamilton für mich inzwischen all die Dinge, die ich in meiner Welt am meisten verabscheute. Und meine … flüchtigen Gefühle für sie mit dem zu vergleichen, was ich für dich empfinde …«
»Aber du hast doch das Gedicht für sie geschrieben.«
»Ach ja, das Gedicht.«
»Deine ewige Berühmtheit verdankst du einem … Liebessonett für eine andere Frau«, stellte ich fest.
Seine Antwort klang nachdenklich. »Der allgemeinen Auffassung nach spiele ich auf England an. Auf die Liebe zu König und Vaterland als Erlösung von den Übeln des Kriegs.«
»›… Und ihre Schönheit
Blitzt im Regen auf wie silbrig funkelnde Stichlinge
In einem sommerlichen Teich, oder der Mond, der
Strahlend hinter Schleierwolken zieht‹«,
zitierte ich, den Kopf über die Suppenschale gebeugt. »Verzeih, aber so patriotisch kann kein Mann sein.«
»Du hast es auswendig gelernt?«, fragte er verwundert.
»Ich habe dir doch erzählt, dass ich in der Highschool einen Aufsatz darüber geschrieben habe.« Ich lächelte ihn verlegen an. »Ich musste dich mit Wilfred Owen vergleichen.«
»Und wie habe ich abgeschnitten?«
»Ich glaube, ich habe die Lanze für Owen gebrochen«, gab ich zu. »›Übersee‹ fand ich sentimental, insbesondere neben Owens
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