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Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Das Meer der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatriz Williams
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den wohl tragischsten aller Kriege hineingeraten sind. Was das Wie betrifft«, er zuckte mit den Schultern, »kann ich das nicht mit Gewissheit sagen. Es … passiert einfach.«
    »Es passiert einfach. Das ist doch ein Scherz, oder? Wie kann jemand einen Menschen in eine andere Zeit versetzen? Wie sind Sie eigentlich dahintergekommen, dass Sie diese Fähigkeit besitzen? Das ist Wahnsinn!« Ich schüttelte erneut den Kopf.
    »Es war im Jahr 1996«, begann Hollander nachdenklich. »Ich hatte gerade mein drittes Buch herausgebracht und Ashfords Biographie beinahe fertiggestellt. Es gab nur noch ein paar offene Fragen. Also nahm ich mir ein Zimmer in Amiens, dem Teil der Westfront, wo die Briten den Großteil ihrer Leute zusammengezogen hatten. Von dort aus erkundete ich die Umgebung, häufig zu Fuß, manchmal auch in einem Mietwagen. Haben Sie je die Schlachtfelder besucht?«
    »Nein. Allerdings habe ich einige Soldatenfriedhöfe gesehen, als ich mit dem Eurostar nach London fuhr.«
    »Die Linie Calais-Paris«, sagte Hollander, »verläuft mehr oder weniger entlang der alten Westfront. Während des Kriegs erstreckten sich die Schützengräben durchgehend von der Schweiz bis zum Ärmelkanal. Es ist alles ziemlich genau auf Karten verzeichnet. Stundenlang bin ich mit meinen Abbildungen die verschiedenen Angriffs- und Rückzugslinien abgegangen, um mir die Schauplätze der Schlacht selbst anzusehen.«
    »Wow«, sagte ich. »Wollten Sie Julians Wege nachvollziehen?«
    »Die letzten Tage seines Lebens haben mich fasziniert. Am Abend vor der schicksalhaften Patrouille hat er seiner Mutter nämlich einen merkwürdigen Brief geschrieben. Zuerst spielt er auf Florence an, wenn er sie auch nicht beim Namen nennt. ›Ich hoffe, Dir bald die Tochter vorstellen zu können, die Du Dir immer für mich gewünscht hast‹, heißt es dort. Und dann: ›Ich bin sicher, dass Gott mein Schicksal in seine Hände genommen hat, und überantworte mich seiner Gnade.‹ Als ob er gewusst hätte, dass er in jener Nacht sterben würde. Das war sehr untypisch für ihn, weil er stets voller Zuversicht daran geglaubt hat, dass er den Krieg überleben würde.«
    »Haben Sie ihn danach gefragt?«, erkundigte ich mich mit belegter Stimme.
    »Ja«, erwiderte er, »und er teilte meine Auffassung. Doch das kam natürlich erst später. Damals hatte ich ja noch keine Ahnung, dass ich Julian Ashford jemals persönlich begegnen würde. Mein Gott! Es ist wirklich unvorstellbar. Allerdings war ich inzwischen gut mit ihm, seinen Briefen und seinen Gedichten vertraut und wusste, wie er dachte. So glaubte ich wenigstens. Und so habe ich mich eines Morgens von Amiens aus auf den Weg gemacht, um seine Bewegungen in der fraglichen Nacht nachzuvollziehen und vielleicht sogar die genaue Stelle zu finden, wo er gefallen ist.«
    »Und haben Sie sie gefunden?«, hakte ich nach. Meine Lippen fühlten sich trocken und aufgesprungen an. Ich fuhr mit der Zunge darüber und betrachtete Hollanders faltiges Gesicht.
    »Vermutlich, denn ich stand lange Zeit in tiefe Meditation versunken da, stellte mir sein Gesicht vor und versuchte mir seinen letzten Moment auszumalen. Und dann hörte ich plötzlich ein ausgesprochen seltsames Geräusch. Es war ein langgezogenes, lautes Heulen, so wie man sich den Klang einer heransausenden Granate vorstellt. Darauf folgte ein entsetzlicher Knall. Ich habe mich geduckt, die Augen geschlossen und mit den Armen meinen Kopf geschützt. Und als ich die Augen wieder aufmachte, lag ein Mann in khakifarbener Uniform vor meinen Füßen.«
    »Julian«, flüsterte ich. »Sie … Sie haben ihn in die Gegenwart geholt. Mein Gott. Sie haben ihm das Leben gerettet.«
    »Natürlich war ich erschrocken bis ins Mark und glaubte zu träumen. Anfangs hielt ich ihn für tot, aber er atmete, war allerdings nicht bei Bewusstsein. Also musste ich etwas unternehmen. Ich bin zum nächsten Bauernhof gelaufen, um einen Krankenwagen zu rufen, und habe die Leute um Kleidung gebeten. Ich habe ihnen erzählt, dass es sich bei dem Mann um einen Fremden handle, irgendeinen verdammten Idioten, der vermutlich eine Kriegsszene habe nachstellen wollen. Diese Fanatiker treiben sich dort immer wieder herum. Wahrscheinlich habe der Mann einen Krampfanfall gehabt.«
    »Und Sie wussten, dass es Julian war?«
    »Es konnte niemand anders sein. Natürlich kannte ich sein Gesicht. Außerdem hatte er seine Identifikationsmarke um den Hals, die ich natürlich einsteckte, bevor der

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