Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
sicher klar, dass Julian Ende März 1916 verschwunden ist. Knapp drei Monate später, am ersten Tag an der Somme, startete seine Abteilung einen Angriff. Der Captain, der Julian abgelöst hatte, ist gefallen.«
»Aber er hätte eine Chance, oder?«, flehte ich. »Ich könnte es ihm erzählen, ihn warnen und ihn während des restlichen Kriegs beschützen.«
»Eine sehr geringe Chance«, entgegnete er. »Außerdem nur, wenn es klappt und Sie es tatsächlich schaffen, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen. Vielleicht würde irgendeine kosmische Macht Sie ja daran hindern.«
Seufzend blickte Hollander aus dem Fenster. In den letzten Minuten hatte sich ein blauer Schimmer am Horizont ausgebreitet, und das Flugzeug raste auf das Morgengrauen zu. Ich nahm die Armbanduhr ab und drehte die Zeiger fünfmal um dreihundertsechzig Grad. »In Großbritannien ist es jetzt neun Uhr«, sagte ich leise. »Wir landen bald.«
Hollander wandte sich zu mir um. »Gut«, verkündete er. »Falls die Katastrophe eingetreten ist und sie es getan haben …« Seine Stimme versagte, und er schüttelte den Kopf. »Dann mache ich es. Aber Sie müssen bereit sein. Sie werden im Southfield des Jahres 1916 landen und Kleidung, Nahrung und eine Unterkunft brauchen. Außerdem müssen Sie sich nach Frankreich durchschlagen. Haben Sie Geld?«
Ich betrachtete meine Handgelenke. »Kein Problem«, erwiderte ich und nahm das goldene Armband ab, eines der wenigen Schmuckstücke von Julian, das ich auch regelmäßig trug. »Und meine Ohrringe«, fügte ich hinzu. »Das sind zusammen sicher einige Gramm. Ich kann sie gegen die örtliche Währung umtauschen, wenn ich dort bin. Gold ist immer etwas wert.«
»Was ist mit Ihrer Kette?« Hollander wies mit dem Kopf auf meinen Hals.
»Meiner Kette?« Ich berührte meinen Kragen und blickte an mir hinunter. »Oh, wie ist die denn dahin gekommen. Sicher hat er … als ich nach oben gegangen bin, um mich vor dem Abendessen frisch zu machen …« Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten.
In Wirklichkeit war ich hinaufgelaufen, um mich zu übergeben. Als ich aus dem Bad kam, stand Julian mit tiefbesorgter Miene im Schlafzimmer. »Alles in Ordnung«, sagte ich. »Nur das Übliche.« Er schlang die Arme um mich und drückte mich eine Weile wortlos an sich. »Hoffentlich hast du jetzt kein schlechtes Gewissen«, flüsterte ich. »Ich bin die glücklichste Frau auf der Welt, weil ich ein Kind von dir erwarte.«
»Kate«, meinte er nach einigen Sekunden leise, »manchmal beschämst du mich. Weißt du das?« Er drehte mich um, legte mir etwas um den Hals und schloss es mit geschickten Fingern, ehe ich mich wehren konnte. »Ein Hochzeitsgeschenk. Das darfst du nicht ablehnen.« Dann küsste er mich, nicht träge und verführerisch wie sonst, sondern mit atemberaubender Leidenschaft.
Und deshalb hatte ich die Kette bis zu diesem Augenblick völlig vergessen.
Ich betastete die großen, abwechselnd schwarzen und weißen Perlen. »Die kann ich nicht verkaufen«, flüsterte ich. »Sie waren sein Hochzeitsgeschenk.«
»Ich würde sie trotzdem mitnehmen«, schlug Hollander vor. »Nur für alle Fälle. Stecken Sie sie in die Tasche.«
Meine Finger zitterten so, dass ich Hollander bitten musste, mir beim Öffnen der Schließe zu helfen.
Ich steckte sie in die Innentasche meines Regenmantels, den ich in Erwartung des typisch englischen Wetters mitgenommen hatte.
Hollander räusperte sich. »Wie ich schon sagte, werden Sie sich nach Frankreich durchschlagen müssen. Ich würde Ihnen empfehlen, den Ärmelkanal in Folkestone zu überqueren. Von Dover aus geht es möglicherweise schneller, könnte aber auch gefährlicher sein. U-Boote, wissen Sie? Wenn wir jetzt in meinem Büro wären, wo meine Aufzeichnungen liegen, könnte ich Ihnen sagen, welche Fähren Sie meiden müssen.«
Ich nickte.
»Ich kann Ihnen genau erklären, wo in Frankreich Sie ihn finden werden«, fuhr Hollander fort. »Er hat die letzten Tage vor der Patrouille auf einem zweiundsiebzigstündigen Urlaub in Amiens verbracht, um mit den Kommandanten der Einheit neue Taktiken zu besprechen. Arthur hat das für ihn arrangiert. Er hatte seine Vorgesetzten nämlich schon seit Monaten mit Schreiben bombardiert, um etwas daran zu ändern …« Er schüttelte den Kopf. »Aber das spielt vermutlich keine Rolle. Jedenfalls hat er am ersten Morgen in der Kathedrale von Amiens die Mette besucht. Sie könnten ihn draußen erwarten.«
»Mette? Was ist denn
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