Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Er hat sich zu dem Mann entwickelt, der er zu werden versprochen hat, und ist ein so ehrenwerter und guter Mensch, wie es auf Erden kaum einen gibt. Einzig das Wissen um Ihren Schmerz bedrückt ihn, doch er wird so geliebt, wie es noch keinem Mann zuvor vergönnt war, von
Kate Ashford
Das Kuvert adressierte ich an die Vicomtesse Chesterton, Southfield, England.
Einen Tag lang verbrachte ich damit, ganz sachlich über die Frage nachzudenken, ob ich mich umbringen sollte. Schließlich war ich mitten im Ersten Weltkrieg gestrandet, wo die Zukunft nichts als die Spanische Grippe, die Weltwirtschaftskrise und Hitler für mich bereithielt. Welchen Sinn hatte das Leben noch ohne Julian und ohne unser Baby? Alle, die ich kannte und liebte, gab es noch nicht. Oh, es bestand die Möglichkeit, dass Hollander so nett war, mich zurückzuholen. Aber auch das wäre dann eine Welt ohne Julian gewesen. Ich würde seine Witwe sein, die tragische Mrs. Laurence, umgeben von Dingen, die mich an ihn erinnerten, und einen langsamen Tod sterben. Vermutlich würde ich mich in eine Einsiedlerin verwandeln, die sich mit unzähligen Katzen in ihrem Haus in Manhattan verschanzte.
Eine entsetzliche Vorstellung.
Allerdings wäre Julian außer sich gewesen, wenn ich Selbstmord verübt hätte. Genau dieses Selbstmitleid à la Arthur Hamilton verachtete er am meisten, und es war das Gegenteil dessen, was er an mir liebte. Er hatte sich ja auch nicht von der Brücke gestürzt, sondern sich dem Leben gestellt. Natürlich hatte er gewusst, dass er mir irgendwann begegnen würde, doch zu Anfang musste ihm diese Aussicht sehr weit entfernt erschienen sein.
Also würde ich weiterexistieren. Ich würde einen Weg finden, mich nützlich zu machen und mein Wissen für eine gute Sache einzusetzen. Vielleicht konnte ich in den Zwanzigern ja ein Vermögen an der Wall Street machen und das Geld während der Weltwirtschaftskrise und des nächsten Kriegs für wohltätige Zwecke spenden.
Doch im Moment fühlte ich mich wie betäubt, wofür ich eigentlich dankbar war. Es war, als hätte ich mir eine dicke Schleimhaut wachsen lassen, die mich einhüllte, so dass der Schmerz nur leicht an der Oberfläche pikste, die Schichten allerdings nicht durchdringen konnte. Kein Julian mehr. Nicht einmal unser Baby. Dieser Gedanke prallte weiterhin ab, war noch nicht in das Vakuum in meinem Inneren vorgedrungen.
Es war, als befände ich mich nicht wirklich in dieser Welt. Ich saß einfach auf einer Holzbank, beobachtete das geschäftige Treiben am Hafen und wartete darauf, dass es elf Uhr schlug, so dass ich an Bord der Columbia gehen und nach Hause fahren konnte.
»Hallo, Miss?«
Die Stimme so dicht an meinem Ohr ließ mich zusammenzucken.
»Hallo, Miss? Englische Miss?« Es war ein kleiner, magerer und barfüßiger Junge, etwa acht Jahre alt, der mich hungrig und voller Hoffnung ansah. Fiel es denn so auf, dass ich keine Französin war? »Ich trage den Koffer, ja? Nur zehn Centimes, Miss?«
»Oui, merci. Ich fahre auf der Columbia. Kennst du sie?«
»Oui, natürlich, Miss. Folgen Sie mir, ja?«
Als die Uhr elf schlug, stand ich auf und reichte dem Jungen meinen winzigen Koffer. Ich hatte nur einen Pyjama, ein paar Sachen zum Wechseln, das hübsche Kleid, das ich mir für den letzten Abend mit Julian gekauft hatte, und die wenigen Kosmetikartikel bei mir, die ich hatte auftreiben können, um als Ersatz für Neutrogena zu dienen. Nicht viel also, um sich ein neues Leben aufzubauen.
Der Junge nahm mich an der Hand und führte mich zu dem etwa hundert Meter entfernt vor Anker liegenden Schiff. Gerade war ein Truppentransporter eingetroffen. Nun marschierten die Passagiere in lockerer Formation und fröhliche Lieder singend den Pier entlang. Ich hatte mich so auf Julian und seine Rettung konzentriert, dass ich nichts um mich herum richtig wahrgenommen hatte. Dabei befanden wir uns im Jahr 1916, und ich wurde Zeugin, wie Geschichte geschrieben wurde.
All diese Männer, die Krankenschwestern und die Bewohner der Stadt waren an einem Krieg beteiligt. Plötzlich schoss es mir durch den Kopf, ob ich nicht besser bleiben sollte. Vielleicht sollte ich ja dem Roten Kreuz oder einer anderen Hilfsorganisation beitreten. Einen Krankenwagen fahren wie Hemingway oder Verwundete pflegen.
Im nächsten Moment blieb ich stehen. An der Gangway zur zweiten Klasse hatte sich eine Menschenmenge versammelt, um an Bord zu gehen. Hauptsächlich Frauen, einige von ihnen mit Kindern. Ein
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