Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
annimmst. Du wirst es brauchen, um die Überfahrt, Arztkosten und alles andere zu bezahlen. Leider habe ich nicht mehr bei mir, aber ich schreibe an meine Bank …«
»Nein«, wandte ich rasch ein, »bitte nicht. Ich habe im Moment genug Geld. Du hast mich an deinem letzten Tag ja behängt wie einen Pfingstochsen. Schau nur.« Ich zog die Perlenkette ein Stück aus der Tasche. »Dein Hochzeitsgeschenk.«
»Gütiger Himmel!«
»Ja, du bist viel zu großzügig und zu gut zu mir.«
»Ach, du hast mich nur wegen meines Geldes geheiratet.«
»Selbstverständlich.«
Er drückte mir den Umschlag in die Hand. »Nimm ihn trotzdem, Liebling. Und wenn nur, damit ich beruhigt bin.«
»Julian, ich kann nicht«, flüsterte ich. »Letzte Nacht …«
Er errötete. »War für mich unsere Hochzeitsnacht«, beendete er den Satz. »Und Ehepaare rechnen einander nichts auf.«
Das Knacken in mir war beinahe schmerzlos.
Er schloss meine Hände um den Umschlag.
»Gut«, erwiderte ich zögernd, »aber nur, wenn du das hier nimmst.« Ich förderte den zusammengefalteten Zettel zutage.
»Was ist das?«
»Nur für den Fall, dass es trotzdem passiert.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Kate, ich verlasse dich nicht.«
In der Ferne erklang das langgezogene, klagende Pfeifen einer Dampflok.
»Dann geht es jetzt wohl los«, stellte er fest.
»Bitte«, beharrte ich und steckte ihm den Zettel in die Tasche.
»Liebling.« Er lächelte. »Also meinetwegen. Schreib mir, wann immer du kannst, und erzähl mir, wie du dich fühlst und was du tust. Ich werde jeden Moment an dich denken und wie ein Löwe darum kämpfen, so bald wie möglich Urlaub zu bekommen.«
Ich nickte. »Ich schreibe jeden Tag.« Inzwischen fuhr die Lokomotive unter lautem Rattern und Tuten in den Bahnhof ein.
»Und natürlich auch deine Adresse, damit ich antworten kann. Liebesbriefe, vielleicht auch ein paar schlechte Gedichte, wenn du großes Pech hast.«
Ich nickte, da mir die Worte fehlten.
Er umfasste mein Kinn und legte mir den anderen Arm locker um die Taille. »Noch einen«, murmelte er und senkte den Kopf.
»Ich liebe dich, Julian Ashford«, sagte ich. »Vergiss das nicht. Es ist wichtig.«
Er lehnte die Stirn an meine. »Ich liebe dich, Kate Ashford.«
»Nein, tust du nicht. Noch nicht.«
»Du irrst dich«, erwiderte er. »Ich liebe dich wirklich.«
»Nein, tust du nicht«, beharrte ich. »Aber du wirst es tun.«
Er grinste. »Gut, darauf können wir uns einigen. Auf Wiedersehen, Liebling. Gib acht auf dich. Du hörst bald von mir.«
»Auf Wiedersehen, mein Liebling. Mein einziger Liebling.«
Er küsste meine Hand und ließ los.
»Gott segne dich«, flüsterte ich. Er nickte, sah mich eindringlich an, wirbelte herum und drängte sich durch die Menschenmenge zum Zug durch, ohne sich noch einmal umzudrehen. Verzweifelt suchte ich mit Blicken die Fenster ab, als die Waggons sich in Bewegung setzten, doch er war in einem Meer aus identischen Khakiuniformen und Köpfen mit Mützen darauf verschwunden.
Abends setzten die Krämpfe ein, und am nächsten Morgen hatte ich das Baby verloren.
Julians Postkarte traf nie ein.
29
E ine Woche später stand ich im Hafen von Le Havre, umringt von in Khaki gekleideten Soldaten und blau-weiß gewandeten Krankenschwestern. Offenbar trug inzwischen die ganze Welt Uniform.
Ich war nicht ganz sicher, wie ich hierhergekommen war, denn die letzten Tage verschwammen in einem alptraumhaften Nebel. Irgendwie hatte ich überlebt, gegessen, mich angezogen, geatmet und sogar einige wenige Stunden geschlafen.
Meinen Zettel für Julian hatte ich wieder in meiner Jackentasche vorgefunden, wo seine geschickten Finger ihn hineingesteckt hatten. Vermutlich hatte er mich durch den letzten Kuss abgelenkt.
Nachdem ich nach Julians Aufbruch volle vier Tage gewartet hatte, um ganz sicher zu sein, dass er tatsächlich fort war, hatte ich im Büro der Dampfschifffahrtsgesellschaft eine Passage zweiter Klasse nach New York gebucht. Ich wusste, dass ich weder in Frankreich bleiben noch bei Julians Familie wohnen konnte. Amerika war meine Heimat, ganz gleich, in welchem Jahrhundert.
Außerdem hatte ich auf dem Postamt einen Brief aufgegeben. Ich hatte ihn während der Reise nach Le Havre geschrieben und mir, unsicher, ob es richtig war, jedes Wort abgerungen.
Bitte trauern Sie nicht um Julian. Er ist von diesen Schrecken erlöst und in eine andere Zeit an einen anderen Ort gebracht worden, wo er lebt und bei bester Gesundheit ist.
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