Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
konnte ich noch nie. Geoff hat es getan.«
»Was hat Geoff getan?«, flehte ich ihn an. »Er hat Julian doch nicht etwa erschossen. Niemals.«
»Also gute Nacht, geliebter Prinz«, murmelte Arthur und blickte zu Boden. »Endlich. Der Flug der Engel … und so … alles Unsinn.«
»O nein«, stöhnte ich. »O nein.«
»Ich habe ihn geliebt«, sagte Arthur und sah mich an. »Der Rest ist Schweigen.« Er nahm eine Pistole aus der Tasche.
»O nein«, wiederholte ich.
Er steckte sie in den Mund und drückte ab.
Die Hände vors Gesicht geschlagen, wirbelte ich herum und stürmte zum Friedhof, wo ich mit Hollander zusammenstieß. »Sie haben es getan! Sie haben ihn getötet! Geoff hat Julian erschossen!«
»O mein Gott!«, rief er aus und schloss die Augen.
»Er hat sich gerade selbst erschossen. Dort hinten! Sein Gehirn …«
»Wer?«
»Arthur Hamilton. Also tun Sie es, Professor. Schicken Sie mich sofort zurück. Bitte. Ich ertrage es nicht.«
»O mein Gott!«, stöhnte er wieder.
Ich packte ihn an den Schultern. »Wenn Sie es nicht sofort tun, nehme ich diese Pistole und bringe mich um!«
Er riss die Augen auf und starrte mich an.
»Tun Sie es!«, schrie ich und fiel vor ihm auf die Knie.
Ich spürte, wie seine Hände fest meine Schultern umfassten. Wind und Regen stürmten auf mich ein. »Tun Sie es!«, schrie ich wieder. Im nächsten Moment entwich die Luft aus meinen Ohren, und ich fiel und fiel in einen gefrorenen Abgrund. Als ich erwachte, prasselte mir ein steter Märzregen ins Gesicht.
28
Amiens
I n dieser Nacht tat ich kein Auge zu, denn ich wollte keine einzige Sekunde meiner letzten Nacht mit Julian verschwenden. Doch ich hätte auch nicht schlafen können, selbst wenn ich gewollt hätte. Jeder Nerv in meinem Körper vibrierte wie von Elektrizität durchströmt.
Ich hatte es ihm nicht gesagt. Was hätte es auch genutzt? Er hätte weder seine Pläne geändert noch sich vor seiner Pflicht als Offizier gedrückt oder sich von seinen Grundsätzen verabschiedet. Also war es besser, ihn in dem Glauben ziehen zu lassen, dass er dem Schicksal eine lange Nase drehen und den göttlichen Willen beeinflussen konnte. Dass er die Möglichkeit hatte, sich Hollanders Zugriff zu entziehen, indem er den Zeitpunkt der Patrouille verschob oder sonst eine bedeutungslose Maßnahme ergriff. Dass er in diesem Jahrhundert bleiben konnte, um zurückzukehren, mich zu heiraten und unserem Kind ein Vater zu sein. Warum ihm diesen wunderschönen Traum nehmen, der ihn bis zum Ende begleiten würde?
Ich beobachtete ihn beim Schlafen und musterte sein geliebtes, vertrautes Gesicht im Licht des Mondes, das durch die Fenster hereinfiel. Diese gleichzeitig männliche und kindliche Version von Julian, Soldat und Schuljunge und dennoch schon mit der Anlage all jener Eigenschaften ausgestattet, die ich in ihm so liebte.
Er war der Julian, den ich liebte, und mir wurde klar, dass ich ihn nicht hierbehalten durfte, damit er an der Somme, in Passchendaele oder bei einer unwichtigen nächtlichen Patrouille fiel. Schließlich hatte er noch zwölf Lebensjahre einschließlich eines wundervollen Sommers vor sich, und er hatte in dieser Zeit so viel erreicht. All die Investoren bei Southfield, die Stiftungen und Pensionspläne, die Rettung von Sterling Bates vor der Insolvenz, samt und sonders nur seiner Durchsetzungskraft, seinem Einfallsreichtum und seinem beispielhaften Verhalten zu verdanken. Er hatte ein Kind mit mir gezeugt, das nach ihm oder eher vor ihm leben würde. Ich würde es mit jeder Faser meines Körpers lieben und es in ehrenvollem Andenken an seinen außergewöhnlichen Vater großziehen.
Und all das bedeutete viel mehr als mein egoistisches Bedürfnis, dem Schicksal noch ein wenig mehr gemeinsame Zeit mit ihm abzuringen.
Irgendwann lange nach Mitternacht bewegte er sich, schlug schlaftrunken, ein wenig verwirrt und herzzerreißend jungenhaft die Augen auf und betrachtete mein Gesicht auf dem Kissen. »Kate«, seufzte er.
Ich berührte seine Wange, küsste ihn und legte all die Zärtlichkeit und Leidenschaft, die ich für ihn empfand, in diesen Kuss. Und dann liebte ich ihn. Ich war im Vorteil, denn ich wusste genau, was ihm gefiel und was ihm Lustschreie entlockte. Ich hatte die unzähligen wundervollen Übungsstunden gut genutzt und brachte ihn erschaudernd zum Höhepunkt. Danach schmiegte ich ihn an meine Brust, nahm die Wärme seiner Haut in mich auf und flüsterte ihm zu, dass ich ihn für immer begehren,
Weitere Kostenlose Bücher