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Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Das Meer der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatriz Williams
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hübscher Junge mit blonden Locken versuchte seiner Mutter zu entwischen. So musste Julian in diesem Alter gewesen sein. Ein paar Männer trugen Zivilkleidung, was in dieser militarisierten Landschaft beinahe exotisch wirkte. In den letzten Wochen waren die einzigen nicht uniformierten Männer, die ich gesehen hatte, offensichtlich nicht kriegstauglich gewesen. Also handelte es sich bestimmt um Amerikaner, die nach New York zurückkehrten. Die Vereinigten Staaten sollten erst in einem Jahr in den Krieg eintreten.
    Der kleine Junge drehte sich zu mir um. »Warum halten wir an, Miss?«, fragte er höflich.
    »Lass mich kurz überlegen«, erwiderte ich. Vielleicht sollte ich wirklich bleiben. Hier konnte ich im Moment mehr ausrichten. Auf jeden Fall würde ich rund um die Uhr beschäftigt sein. Ein wenig Französisch konnte ich ja. Das ließ sich ausbauen.
    Der kleine Junge zupfte mich am Ärmel. »Kommen Sie, Miss. Sie steigen schon ein. Sie werden Ihr Schiff verpassen.«
    »Nein«, sagte ich. »Warte. Attendez, s’il vous plaît .« Amerika oder Frankreich? New York oder Paris? Ich konnte mich nicht entscheiden und fühlte mich wie in der Mitte entzweigerissen. Die Hupe eines Schiffs gellte mir immer lauter in den Ohren, während der kleine Junge mich erstaunt anstarrte. Im nächsten Moment entwich meinen Ohren wieder die Luft, ich trudelte durch eisige Kälte, und dann war da nichts mehr.

    Feuchtkalte Meeresluft streifte meine Nase, und etwas Warmes und Festes schmiegte sich an mich. Als ich die Augen öffnen wollte, waren meine Lider so schwer, dass ich es aufgab.
    »Ich dachte, ich hätte dich gebeten, nach Hause zu gehen und dort auf mich zu warten«, flüsterte mir eine Stimme zärtlich ins Ohr.
    »Ich konnte nicht«, erwiderte ich mit Lippen, die mir nicht so recht gehorchen wollten.
    »Also bist du losgelaufen, um mir zu helfen«, sprach die Stimme in unbeschreiblich liebevollem Ton weiter. »Und ich hätte dich beinahe für immer verloren.« Der warme Körper unter mir bewegte sich etwas, und ich hörte eine andere, etwas barschere Stimme, weiter von mir entfernt. »Gott sei Dank, sie kommt wieder zu sich. Ist der Wagen bereit?«
    Einige Worte wehten heran, die ich nicht ganz verstehen konnte. »Nein, ich denke, besser nach Paris«, fuhr die dunkle, samtige Stimme unter meinem Ohr fort. »Ich glaube, sie hat sich wieder so weit erholt. Allegra soll im Hotel anrufen. Wir müssten in zwei Stunden da sein. Kannst du dich bewegen, Liebling? Das Auto wartet.«
    »Auto«, wiederholte ich benommen. Erneut bemühte ich mich, die Augen zu öffnen, was mir diesmal mit knapper Not gelang. Ich erkannte, dass es stockfinstere Nacht war – und dass das Gesicht neben mir Julian gehörte. »Aber du bist doch tot«, flüsterte ich.
    »Nein, Liebling«, sagte er, und ich spürte, dass er mir wie immer das Haar zurückstrich. »Ich lebe und habe dich gesucht, um dich zurückzuholen, bevor du an Bord dieses verdammten Schiffs gehst.«
    »Was?« Allmählich begann ich zu verstehen, wenn auch nur, dass überhaupt nichts Sinn ergab.
    »Aber du bist doch tot«, wiederholte ich. »Wo bin ich?«
    »Le Havre. Du wolltest gerade mit der Columbia nach New York zurückkehren, als wir dich endlich gefunden haben. Es war ziemlich mühsam. Ich nehme an, du hast es nicht bis zur Gangway geschafft?«
    »Nein«, stieß ich hervor. »Ich habe überlegt … O mein Gott, Julian. Das ist unmöglich. Du bist ein Geist. Moment mal – welcher Julian?«
    Er lachte auf. »Liebling, habe ich dir nicht gesagt, dass wir ein und derselbe sind?«
    »Ja, aber …«
    »Der ältere, Liebling, falls dir das recht ist. Der, den du geheiratet hast.«
    »Aber … aber Arthur hat gesagt …«
    »Pst, ich erkläre dir alles später.«
    »Aber Geoff hat dich doch umgebracht …«
    »Offenbar nicht. Kannst du dich bewegen? Soll ich dich zum Auto tragen?«
    Nur undeutlich nahm ich wahr, dass er mich hochhob und mich mit ruhigen, geschmeidigen Schritten durch die Nacht trug, während ich den auf dem Bahnsteig unterdrückten Tränen endlich freien Lauf ließ und in sein Hemd schluchzte. Im nächsten Moment wurde ich sanft in ein Auto bugsiert. Die Tür fiel hinter uns ins Schloss, und ich hörte, dass vorne eine zweite zuklappte.
    »Alle da«, murmelte Julian, und das Auto setzte sich in Bewegung.
    Langsam versiegten meine Tränen, allerdings nicht, weil ich mich beruhigt hätte, sondern aus Erschöpfung. »Pst«, flüsterte Julian liebevoll. »Ich weiß, es war

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